Heinrich von Kleist in literarischer Fiktion der Gegenwart
LEONARDA TRAPASSI
UNIVERSIDAD DE SEVILLA
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Das literarische Kleistbild der 70er-80er Jahre des 20. Jahrhunderts, bzw. die Bilder des Dichters, wie sie in literarischen Werken dieser Periode erscheinen, können als ein bedeutungsvolles Beispiel der Traditionsaneignung seitens der Literatur betrachtet werden. Die verschiedenen Werke der Gegenwart, die sich mit der Figur und/oder mit dem Werk Kleists beschäftigen, zeigen unterschiedliche Modalitäten, in denen sich dieser Prozeß entfaltet, je nach Stellung der Autoren gegenüber der literarischen Tradition. |
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Unter diesem Aspekt werden hier drei Werke der biographischen Fiktion¹ analysiert, in denen Kleist als Haupt- oder Nebenfigur erscheint: ein Hörspiel von Günter Kunert, "Ein anderer K."; die Erzählung von Christa Wolf, "Kein Ort. Nirgends"; und der Roman von Karin Reschke, "Verfolgte des Glücks. Das Findebuch der Henriette Vogel". |
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Die ersten zwei Werke spielen eine wichtige Rolle in der Klassik-Romantik-Debatte in der DDR und das letzte ist ein Roman, der eine Hommage an eine vergessene Frau der Romantik darstellt, eben an Henriette Vogel, die Frau, die mit Kleist in den Tod geht, am 21.11.1811 am Wannsee. |
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Ziel dieses Vergleichs ist selbstredend nicht, festzustellen, inwiefern die Autoren dem historischen Kleist gerecht werden, oder vom Kleist-Mythos ausgehend, diese Werke in die verschiedenen und widerspruchsvollen Etappen der Kleist-Forschung und -Rezeption einzuordnen². Die Frage bei der Lektüre und Analyse der Werke war vielmehr folgende: welche Aspekte der historisch-literarischen Tradition werden von den Autoren in Bezug auf Kleists Werk produktiv rezipiert und thematisiert? Und wie geschieht das?
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Als Vorbemerkung über den Begriff der von Dichterfiguren inspirierten biographischen Fiktion könnte man noch hinzufügen, daß hier damit jene Art der Rezeption literarischer Tradition gemeint ist, die, nicht nur die Dichterfigur, sondern auch immer deren Dichtung aufgreift. Es handelt sich also nicht, oder nicht nur, um eine fiktionale Verlebendigung von Biographie, also um Geschichtswissen. In diesem Fall von produktiver Rezeption dagegen: “wird zwar kein literarisches Werk konkret umgestaltet wie bei Werkbearbeitungen, aber es werden aus einem oder mehreren oder dem Gesamtwerk Gehalte abstrahiert und auf bestimmte Fragestellungen bezogen” (vgl. Sudau 1985:224).
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Die Ursendung des Hörspiels von Günter Kunert Ein anderer K. stammt aus dem Jahr 1976; Das Werk erscheint ein Jahr danach (1977) zum ersten Mal im Druck (beim Reclam-Verlag in der BRD). In diesem Zusammenhang gehört aber auch eine in der DDR vielbeachteten Kontroverse, die eine Art Vorgeschichte zum Hörspiel darstellt. Zum 200. Geburtstag Kleists sollte der Literaturwissenschaftler Peter Goldammer eine Anthologie herausgeben, in der Schriftsteller über ihr Verhältnis zu Kleist Auskunft gaben (vgl. Goldammer 1976). Auch Kunert erhielt eine Aufforderung. Sein Beitrag wird aber wegen seinem polemischen Ton nicht angenommen, und erscheint dann, sogar vor der Anthologie von Goldammer, in der Zeitschrift Sinn und Form (vgl. Kunert 1975).
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In der Tat greift Kunert in seinem Beitrag direkt die Literaturkritik und die Kulturpolitik der DDR an. In seinen beiden Texten, Pamphlet für K. und Notwendiges Nachwort zum Pamphlet wirft er Goldammer vor, daß seine “Klassiker-Rezeption....absolut bürgerlich, nämlich affirmativ” sei (vgl. Kunert 1975:1095).
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Anhand eines Zitates aus dem 1972 erschienenen Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller, in dem Kleists Persönlichkeit als eine “eigentümliche Vermischung von [...] Gesundheit und Krankhaftigkeit” (nach Kunert 1975:1093) charakterisiert wird, wirft Kunert den Herausgebern nicht nur den Gebrauch “ideologischer Leerformeln, christlich-dualistischem Schema entstammend, fern aller Dialektik” vor (vgl. Kunert 1975:1095), sondern er unterstellt ihnen auch eine Übernahme eines Kulturvokabulars, das aus der Welt des Faschismus stamme und fragt, ob die Verwendung solchen Vokabulars aus “Gedankenlosigkeit oder (aus) unkontrolliert krypto-faschistische Denkensweise(n)” zustande gekommen sei. (vgl. Kunert 1975:1096).
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Zudem kehrt Kunert den Spieß einfach um, wenn er, ohne den Namen Lukács zu nennen, der in Kleist einen Vorläufer des Faschismus sah, jetzt einfach in Goethes Urteilen über Kleist, präfaschistisches Gedankengut ausmacht, und damit bringt er seine Ablehnung der gesamten Erbekonzeption der DDR zum Ausdruck (wie übrigens auch in der Zeit viele andere DDR-Schriftsteller, die sich mit der literarischen Tradition auseinandergesetzt hatten).
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In Ein anderer K. gestaltet Kunert die Figur eines Zensors, den er Grollhammer nennt (der Nachname ist natürlich eine direkte Anspielung auf Goldammer); dieser Zensor ist auch die Hauptfigur des Hörspiels und verfällt paradoxerweise durch seine berufliche Beschäftigung mit der Literatur zunehmend dem Wahnsinn. Er wird von der preußischen Obrigkeit beauftragt, Material über die Kleistsche Erschießungsaffäre zu sammeln, die einen Protest gegen die bestehende Ordnung verursacht hat. Man will die Affäre jetzt in der Presse als Tat eines "Unnormalen" erscheinen lassen. Er bekommt aber von den Befragten (unter anderen auch Marie von Kleist, Fouqué, Ulrike von Kleist, usw.) nicht viele Indizien, die als Beweise zugunsten seiner Aufgabe dienen könnten. So beginnt das progressive Bewußtwerden Grollhammers über das Mißverhältnis zwischen der eisernen Staats- und Gesellschaftslogik und dem Einzelnen.
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Das läßt ihn an seiner Mission zweifeln und führt ihn zum Wahnsinn und Selbstmord. Erst am Ende des Hörspiels wird Kleist vom Erzähler direkt angesprochen; der Erzähler gibt ihm das Schlußwort. In der Rede von Kleist verwendet Kunert Zitate und Gedanken des Kleistschen Aufsatz Über das Marionettentheater:
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Wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo offen ist. Denn die Welt ist ringförmig, und es gibt einen Punkt, wo sie wieder ineinandergreift. Erst wenn dieser Punkt, erreicht ist, erst wenn alles Getrennte erneut sich zusammenfügt, kann Leben so werden, daß es nicht länger notwendig ist, es noch darzustellen. Weil dann seine reale und seine wirkliche Erscheinungsweise eins geworden sind. Zu diesem Punkte also müßte sich die Menschheit aufmachen, falls sie überhaupt eine werden will (vgl. Kunert 1977:42). |
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Es handelt sich hier nicht nur um eine literarische Polemik, sondern auch, wie Günter Kunert selbst erklärt, um eine direkte Anspielung an die damalige Situation der Schriftsteller in der DDR, an das Lähmungsempfinden der Intellektuellen vor dem Hintergrund der kulturpolitischen Ereignissen der Zeit. Das ist auch der Fall im Christa Wolfs Text und in anderen Texten der DDR-Literatur, die sich mit den Romantikern auseinandersetzen, d.h. mit Autoren, die nicht unter dem idealisierten Klassikverständnis der DDR standen. So geschieht es zum Beispiel bei Anna Seghers in ihrer Erzählung Die Reisebegegnung (1973), die eine fiktive Begegnung zwischen Hoffmann, Gogol und Kafka darstellt, und in der bewiesen wird, daß sich auch die Mittel des Phantastischen für eine Kritik an der Gegenwart eignen. Gerhard Wolf, wie vorher auch Stefan Hermlin (im Hörspiel Scardanelli, 1970), setzt sich dagegen im Roman Der arme Hölderlin (1972) mit der Figur und dem Werk Hölderlins auseinander. Außerdem könnte man in diesem Kontext auch Günter De Bruyns Buch über Jean Paul, Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter (1975) nennen. Mit der Wahl Jean Pauls setzt sich De Bruyn ebenfalls mit einem Dichter auseinander, der nicht in der Gunst Goethes stand und darüber hinaus arbeitet er hier mit einem Strukturprinzip, das auch bei Christa Wolf in Kein Ort. Nirgends erscheint: er verwendet Originalzitate der Werke Jean Pauls und verwischt so die Grenzen zwischen Autor und Figur. Franz Fühmann ist als weiterer Autor zu erwähnen, der sich um einen erweiterten Zugang zur Romantik verdient gemacht hat, nämlich mit einem Band gesammelter Essays über E.T.A. Hoffmann, Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann (1977). In all diesen Texten wird die künstlerisch-existentielle Problematik verfremdend reflektiert und die Tendenz der Literatur deutlich, die offizielle Erbekonzeption und die damit verbundene Realismusauffassung zu kritisieren³.
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Zu diesem Zusammenhang gehört die Erzählung Kein Ort. Nirgends von Christa Wolf, die Geschichte einer fiktiven Begegnung von Kleist und Caroline von Günderrode in Winkel am Rhein, um 1800, im Salon Joseph Mertens, bei einer Teegesellschaft des Freundeskreises von Brentano und Savigny.
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Christa Wolf arbeitet hier bewußt eine Vielstimmigkeit heraus, in der die Stimmen des Erzählers und der Protagonisten ineinander übergehen. Aus der Montage von inneren Monologen, Zitaten der Werke der beiden Schriftsteller und der Stimme der Autorin selbst kommt unverkennbar Christa Wolfs Sympatie für die Hauptfiguren hervor.
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Kleist und Günderrode werden als Künstler geschildert, in deren Persönlichkeit sich die grundlegenden Widersprüche ihrer besonderen Zeit ausdrücken. Den beiden sind die Ideale der Aufklärung höchster persönlicher Anspruch geworden, und durch die sich auch in Deutschland ausprägende bürgerliche Wirtschaftsweise sehen sie ihre Vorstellungen einer sich humanisierenden Gesellschaft zunehmend pervertiert.
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Die Wenigen, die an ihren eigenen Vorstellungen eines für sie sinnvollen Lebens festhalten, welche den allgemeinen Entwicklungen widersprechen, werden zu Außenseitern. Unfähig zu einem Kompromiß und zu einer Anpassung an die Realität, müssen sie die Erfahrung machen, daß ihre Vorstellungen von der Allgemeinheit abgelehnt werden - sie werden nicht gebraucht.
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Kleist kann die “Widerkräfte”, die in ihm wirken, nicht teilen, da beide Kräfte gleich stark in ihm sind:
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Ich kann die Welt in gut und böse nicht teilen; nicht in gesund und krank. Wenn ich die Welt teilen wollte, müßt ich die Axt an mich selber legen, mein Inneres spalten, dem angeekelten Publikum die beiden Hälften hinhalten, daß es Grund hat, die Nase zu rümpfen: Wo bleibt die Reinlichkeit. Ja, unrein ist, was ich vorzuweisen habe. Nicht zum Reinbeißen und Runterschlucken. Zum Weglaufen. (Wolf 1979:107-108). |
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Auch Günderrode empfindet ähnlich wie Kleist und ist sich ihrer Widersprüchlichkeit bewußt: „Gräßlich das Chaos,...die unverbundenen Elemente in der Natur und in uns. Die barbarischen Triebe, die mehr als wir es wissen, unsre Handlungen bestimmen.” (Wolf 1979:123).
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Und sie kommt zu der Erkenntnis: “Wir taugen nicht zu dem, wonach wir uns sehnen.” (Wolf 1979:139).
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Entgegen dieser zum Scheitern disponierten Persönlichkeitsstruktur von jüngen Künstlern erscheint die Dichterexistenz Goethes als geglückt. Ihm gelingt es, sich nicht von der Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit auf Dauer lähmen zu lassen und er bewahrt sich bis ins hohe Alter äußerste Produktivität.
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In seinem Schauspiel Torquato Tasso gestaltet Goethe die Problematik des Künstlers in einer höfischen Umgebung. Dieses Schauspiel ist paradigmatisch für Goethes veränderte Einstellung zu dem Verhältnis von Künstler und Gesellschaft und wird deshalb in der Erzählung Christa Wolfs besonders von ihren Figuren Kleist und Günderrode erörtert. Kurz und prägnant stellt Kleist seine Einwände gegen Goethe dar, wobei Kleists Einstellung zu Goethe als “blind durch Liebe, scharfäugig durch Haß” von der Autorin charakterisiert wird (vgl. Wolf 1979:127).
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Kleist sieht im Torquato Tasso den Versuch Goethes dargestellt, den gesellschaftlichen Widersprüchen auszuweichen und macht deutlich, daß, da Goethe “auf Ausgleich bedacht” ist, dieser keinen “dringlichen Hang zur Tragödie” habe (vgl. Wolf 1979:107). |
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Kleists Gedanke, die sich in zwei Figuren- Tasso und Antonio- repräsentierenden Widersprüche in einer Person zu gestalten, entspricht seiner Guiscard-Konzeption. In seiner Ansicht über Goethe, der Günderrode zustimmt, formuliert er seine Kritik an der Anpassung Goethes an die gesellschaftlichen Verhältnisse. Ein solcher Verzicht, auf die aktuelle Gegenwart Einfluß zu nehmen und dadurch sein Werk zu retten, war Kleist nicht möglich. |
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Wie Günter Kunert reflektiert auch Christa Wolf in ihrer Auseinandersetzung mit Kleist und Goethe und deren entgegengesetzten ästhetischen Konzeptionen die gesellschaftlichen Ansprüche und Voraussetzungen ihrer eigenen Literatur.
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Im Vergleich zu Ein anderer K. und zu Kein Ort. Nirgends wird Kleist von Karin Reschke in ihrem zweiten Werk, Verfolgte des Glücks. Findebuch der Henriette Vogel (1982) aus einer weniger literarischen als kulturhistorischen Perspektive betrachtet: der Dichter wird in diesem Briefroman, bzw. Roman in Form eines Tagebuches (oder fiktivem Tagebuch, das im selben Jahr mit dem FAZ-Literaturpreis ausgezeichnet wurde) durch die Augen einer Zeitgenossin, seiner Todesgefährtin, Henriette Vogel, und im Kontext des Berliner Lebens um 1800 dargestellt. Auch hier, wie im Hörspiel Kunerts, wird der Dichter nicht direkt in den Mittelpunkt gestellt; er ist nämlich nicht die Hauptfigur des Romans, sondern erscheint als eine zuletzt hinzutretende Randfigur.
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In diesem Zusammenhang werden hier Erzählstruktur und thematische Entwicklung des Romans in Bezug auf die Schilderung und Rezeption der Figur und der Werke Kleists analysiert und dann wird ein Vergleich zu den anderen zwei Werken, besonders zu Kein Ort. Nirgends versucht. |
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Die Fiktion entspringt von einer nicht für die Öffentlichkeit schreibende Frau der Romantik, von der fast keine Spuren in der Geschichte hinterblieben sind, weder in Literaturgeschichten noch in Kleists Biographien. Das Tagebuch - im literarischen Stil der Zeit- rekonstruiert, oder besser, erfindet Henriettes Leben und versucht, sie somit aus dem Schatten des Dichters zu befreien"4. Hier verschwindet die Autorin ganz hinter ihrer Hauptfigur. |
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In der Tat knüpft Karin Reschke an eine schriftliche Äußerung an, die Henriette Vogel kurz vor ihrem Tod am Ende eines Briefes von Kleist an ihre Freunde Sophie und Adam Müller hinzugefügt hatte (vgl. Kleist 1982:886; Reschke 1982:1). |
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Doch wie dies alles zugegangen |
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Erzähl ich Euch zur anderen Zeit |
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Dazu bin ich zu eilig heut. - |
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Lebt wohl denn! Ihr, meine lieben Freunde, und erinnert Euch in Freud und Leid der zwei wunderlichen Menschen, die bald ihre große Entdeckungsreise antreten werden. |
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Henriette |
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und von dort aus beginnt die Autorin zu erzählen, indem sie vom Ende der Geschichte anfängt, von Henriettes Reise zum Wannsee mit Kleist, die eine Art Rahmenhandlung darstellt. Dann beginnt das Tagebuch mit eingefügten Briefen, Briefkonzepten und Dichtungen der Zeit zwischen 1798 bis 1811. Am Anfang wird auch gleich Henriettes Versprechen erwähnt, Kleist ihr Tagebuch zu schenken. Der Leser beginnt sozusagen dann mit Kleist, ihr Tagebuch mitzulesen bis zum Punkt, an dem die Geschichte anfängt. So schließt sich die zyklische Struktur des Romans, in dem die Figur Kleists, wenn nicht als handelnde Hauptfigur, dennoch im Text immer präsent ist.
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Die gelungene Art von historisch-literarischer contrafactio könnte man übrigens auch als Studie über die literarische Kurzformen der Romantik betrachten, weil auch stilistisch keine Anachronismen verwendet werden. Es wird nämlich auf sprachliche Modernismen verzichtet5. |
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Der Bezug auf schreibende Frauen der Romantik ist dabei sehr explizit in den stilistischen Merkmalen des Werks zum Ausdruck gebracht, weil in das fiktive Tagebuch Briefe und kleinere literarische Versuche einbezogen werden, die von den Werken schreibender Frauen um 1800 inspiriert sind, (wie Rahel Varnhagen, Caroline Schlegel-Schelling, Bettine von Arnim, Caroline von Günderrode) die sich insbesondere Kurzformen widmeten. |
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Schon am Anfang gestaltet sich die Figur Kleists, “der Freund” als Gegenpol zum Finanzbeamten Vogel, dem Ehemann der Henriette, der - im Gegensatz zum Dichter -überhaupt kein Interesse an den “Blättern”, zeigt - wie sie selbst ihre Aufzeichnungen abschätzend bezeichnet. “Plötzlich in die Stille fragte mich der Freund nach den versprochenen Eintragungen in mein Octavheft, vielmehr den verstreuten Blättern [...] (vgl. Reschke 1982:1). |
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Die Fiktion Karin Reschkes beginnt also mit einer umgekehrten Perspektive Leser-Autor: der Autor Kleist wird uns zuerst als Leser des Tagebuchs Henriettes dargestellt. Im Rest des Buches ist es dagegen Henriette Vogel, die die Werke des Dichters liest und ihm ihr Urteil abgibt. |
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Henriette reagiert zuerst mit Bewunderung auf die Bitte des Freundes, ihr Tagebuch lesen zu dürfen, die gleichzeitig das letzte Versprechen vor der gemeinsamen Reise ist: „Auch wunderte mich, daß Kleist in diesen letzten Augenblicken davon anfing, hatten wir uns doch so viel erzählt und offenbart, das Geheimste mitgeteilt - was dagegen waren jugendlicher Übermut, Leichtsinn und Gedankenspiele eines jungen Mädchens in ihrem Findebuch?“ (Reschke 1982:1). |
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Eine Vertrautheit zwischen den Beiden wird unterstellt. Henriette erlaubt dem Freund an diesem “Wendepunkt” ihrer Übereinkunft, als einzigen Vertrauten, ihre Eintragungen zu lesen. Denn sie hat im Grunde - wie sie weiter überlegt - nichts zu verlieren und nichts zu fürchten: “Fürchtete ich sein Urteil, seine Nachsicht, seine gelehrte Meinung, seine Gerührtheit, die vom Hochmut nicht allzuweit entfernt?” (Reschke 1982:1).
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Die Figur Kleists erscheint aber in der Erzählstruktur erst am Ende des Romans und wird von manchen Andeutungen von Sophie von Haza vorbereitet. |
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Der Schriftsteller wird im Roman zum ersten Mal in einem Brief von Adam Müller erwähnt (vgl. Reschke 1982:144), der sich entschuldigt, die Gelegenheit verpaßt zu haben, die Marquise von O, eine geheimnisvolle Novelle seines Freundes Kleist den Vogels vorher geschenkt zu haben, als er sich bei ihnen aufgehalten hat; die Lektüre der Novelle bahnt den ersten Kontakt mit dem Autor an. |
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Henriette gibt dann, beeindruckt, die Novelle der Freundin Amöne als Reiselektüre (für eine Reise nach Italien). Die erste Begegnung erfolgt im Haus Hans Peguilhens (vgl. Reschke 1982:154) und das erste Kennenlernen anläßlich eines Spaziergangs im Tiergarten (vgl. Reschke 1982:160). |
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Ab jetzt ändert sich die Perspektive: Henriette wird nicht nur die Leserin der Werke Kleists sondern auch die literarische Beraterin des Dichters. So entstehen z.B. die viele Gespräche über die Abendblätter und, im Bezug auf die Lektüre von Penthesilea, über die Amazonen. Das Werk enthält also keine Überlegungen zum Werk Kleists im literaturwissenschaftlichen Sinn, sondern vor allem zur Stelle des Dichters im literarischen Leben der Zeit, besonders im Berlin der Franzosenzeit. |
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Schließlich finden wir auch ein echtes Stück produktiver Rezeption: ein kleines literarisches Stück der schreibgewandten Heldin im kleistschen Stil (die Novelle Das Vermächtnis der Elvira von Siena. Ein Märchen). Die Geschichte einer Frau, die den Mut hatte, alle Brücken zu ihrer bisherigen Existenz abzubrechen, um ganz sie selbst zu werden. |
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Henriette Vogel ist dagegen eine in den Konventionen ihrer Zeit befangene Frau, die leidend, fast widerstrebend aus der unerträglichen Normalität zu sich selbst findet. Sie ist keine Intellektuelle, wohl aber eine poetische Natur. Kleist ist ein Außenseiter im literarischen Kreis seiner Zeit, ein Dichter, der nicht anerkannt, nicht aufgeführt wird in Preußen. In diesem Sinne finden wir auch hier eine vielleicht eher indirekte Stellungnahme in der Polemik des Krankhaften und des Gesunden als literaturwissenschaftliche oder rezeptionswissenschaftliche Kriterien. |
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Auch in diesem Werk, wie in Kein Ort. Nirgends, von Christa Wolf erscheint die Figur Kleists in Verbindung mit der frühromantischen Frauendiskussion. Auch hier ist es nämlich eine Frauengestalt der Romantik, die dem Dichter als psychologisch nah dargestellt wird. Die Diskussion war besonders aktuell in den 70er-80er Jahren: in der Romantik taucht nämlich zum ersten Mal gleichzeitig “eine Reihe von Frauen aus der Geschichtslosigkeit” auf, die im Bereich der linksengagierten Kulturwissenschaft im Mittelpunkt auch vieler theoretischer Werke stehen, sowohl in der BRD, als auch in der DDR. |
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Es handelt sich hier auch um die Geschichte einer Begegnung. Während aber Karin Reschke eine reale Begegnung fiktiv rekonstruiert, stellt Christa Wolf dagegen eine fiktive Begegnung als möglich dar. Dem Leser wird so im ersten Fall die tragische Geschichte des Endes von Kleist und Henriette Vogel literarisch dargeboten, im zweiten Fall wird die literarische Begegnung zwischen zwei Dichtern der Romantik als wirklich stattgefundene Geschichte gezeigt. |
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Auch stilistisch wählen die zwei Schriftstellerinnen zwei unterschiedliche Lösungen: bei Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends wird nämlich schon am Anfang der Erzählung die Möglichkeitsform der Recherche von einem heutigen Erzählstandpunkt her deutlich gemacht (vgl. Wiesner 1982). Im Prolog wendet sich ein Erzähler an die Protagonisten aus einer Art gegenwärtiges Zeitstillstandes. |
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Man spürt außerdem, daß bei Karin Reschke der gegenwartsbezogene Anlaß der biographischen Fiktion eher im Bereich der Frauenemanzipation liegt, als in dem der Rolle des Schriftstellers so wie in Kein Ort. Nirgends und Ein anderer K.. |
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Alle drei Werke nehmen allerdings innerhalb verschiedener Zusammenhänge zur Tradition und zur Klassik-Romantik-Debatte Stellung. Kleist erscheint in ihnen entweder als Projektionsfigur, oder wiederum quasi als Vorwand, um über Fragen des Verhältnisses Individuum-Gesellschaft zu sprechen. Daß literaturkritische, literaturwissenschaftliche oder kulturhistorische Kriterien im Prozeß der Traditionsaneignung durch Fiktion auch eine wichtige Rolle spielen beweist übrigens, daß das Genre der "Literatur über Literatur" auch ein priviligierter Raum für die Diskussion über das Schreiben und die Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft sein kann. |
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Bibliografía:
De Bruyn, Günter, 1975. Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Halle: Mitteldeutscher Verlag, 1975. (=De Bruyn 1975).
Emmerich Wolfgang, 1981. Kleine Literaturgeschichte der DDR. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand, 1981. (=Emmerich 1981).
Fühmann, Franz, 1977. Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Stadt oder etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann. Rostock: Hinstorff, 1977. (=Fühmann 1977).
Goldammer, Peter (Hg.), 1976. Schriftsteller über Kleist. Eine Dokumentation. Berlin: Aufbau, 1976. (=Goldammer 1976)
Günderrode, Karoline von, 1981. Der Schatten eines Traumes: Gedichte. Prosa. Briefe. Zeugnisse von Zeitgenossen. Hrsg. und mit einem Essay von Christa Wolf. Berlin: Buchverlag Der Morgen, 1981. (=Günderrode 1981).
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Hermlin, Stephan, 1970. Scardanelli. Ein Hörspiel. Berlin: Wagenbach, 1970. (=Hermlin 1970).
Hohendhal, Peter Uwe, und Patricia Herminghouse (Hg.), 1981. Literatur und Literaturtheorie in der DDR. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1981. (=Hohendhal/Herminghouse 1981).
Jäger, Manfred, 1982. Kultur und Politik in der DDR. Köln: Deutschland Archiv, 1982. (=Jäger 1982).
Kanzog, Klaus, 1988. “Vom rechten zum linken Mythos. Ein Paradigmenwechsel der Kleist-Rezeption”. In: Grathoff, Dirk, Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1988. S. 312-328. (=Kanzog 1988).
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Kiefer, Rumjana, 1994. Kleists Erzählungen in der Literatur der Gegenwart: ein Beitrag zur Geschichte der Intertextualität am Beispiel von Texten A. Muschgs, E. L. Doctorows und E. Plessens. St.Ingbert: Röhrig, 1994. (=Kiefer 1994).
Kohlhof, Sigrid, 1988. Franz Fühmann und E.T.A. Hoffmann. Romantikrezeption und Kulturkritik in der DDR. Frankfurt am Main: Peter Lang, 1988. (=Kohlhof 1988).
Kunert, Günter, 1975. “Pamphlet für K. - Notwendiges Nachwort zum Pamphlet”. In: Sinn und Form 5 (1975), S. 1091-1097. (=Kunert 1975).
Kunert, Günter, 1977. Ein anderer K.. Stuttgart: Reclam, 1977. (=Kunert 1977).
Lindner, Bernd, 1988. “Kleist in der neueren DDR-Literatur”. In: Grathoff, Dirk (Hg.), Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1988, S. 329-354. (=Lindner 1988).
Plessen, Elisabeth, 1979. Kohlhaas. Zürich/Köln: Benziger, 1979. (=Plessen 1979).
Raddatz, Fritz J., 1972. Traditionen und Tendenzen. Materialien zur Literatur der DDR. Frankfurt: Suhrkamp, 1972. (=Raddatz 1972).
Reschke, Karin, 1982. Verfolgte des Glücks. Das Findebuch der Henriette Vogel. Berlin: Rotbuch, 1982. (=Reschke 1982).
Seghers, Anna, 1973. Sonderbare Begegnungen. Erzählungen. Berlin und Weimar: Aufbau, 1973. (=Seghers 1973).
Sudau, Ralf, 1985. Werkbearbeitung. Dichterfiguren. Traditionsaneignung am Beispiel der deutschen Gegenwartsliteratur. Tübingen: Niemeyer, 1985. (=Sudau 1985).
Teupe, Peter F., 1992. Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends als Paradigma der DDR-Literatur der siebziger Jahre. Frankfurt am Main: Peter Lang, 1992. (=Teupe 1992).
Wiesner, Herbert, 1982. “Wäre Ruhe Madame Vogels Pflicht gewesen?”. In: Süddeutsche Zeitung vom 20./21.11.1982, S. ? (=Wiesner 1982).
Wolf, Christa, 1979. Kein Ort. Nirgends. Darmstadt u. Neuwied: Luchterhand, 1979. (=Wolf 1979).
Wolf, Christa, 1972. Der arme Hölderlin. Berlin: Union, 1972. (=Wolf 1972).
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Notas:
1: |
Eine Systematisierung der Begriffe und der dazugehörenden Werke der “biographischen Fiktion” und der “Werkbearbeitung” als Formen produktiver Rezeption findet man in Sudau (1985). Was die Analyse vom strikten intertextuellen Gesichtspunkt betrifft vgl. Kiefer (1994). |
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2: |
Zur Auseinandersetzungen und Wiedersprüchen zwischen Autoren und Kultupolitiker, die seit Mitte der 60er Jahren zunehmen vgl. Emmerich (1981); Jäger (1982); Raddatz (1972); Hohendahl/Herminghouse (1981). |
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3: |
Zum Kleist-Mythos vgl. Kanzog (1988). |
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4: |
In der Tat wird Henriette Vogel in Literaturgeschichten nur in Fußnoten erwähnt und Ihr Name erscheint nicht einmal auf dem Grabstein der beiden, am Wannsee. |
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5: |
Anders geschieht es zum Beispiel im Roman von Elisabeth Plessen, Kohlhaas, in dem die Geschichte Michael Kohlhaas in die Gegenwart versetzt wird. |
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6: |
Wie Christa Wolf in ihrem Günderrode-Essay, Der Schatten eines Traumes, argumentiert (vgl. Günderrode 1982:14). |
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