"Wirklich, ich lebe in finsteren Kreisen".
Ist Brecht noch zu lesen?
MARISA SIGUAN BÖHMER
Universitat de Barcelona
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Wir feiern mit diesem Kongress das zwanzigjährige Bestehen unseres Germanistenverbandes. Deshalb habe ich für meinen Vortrag ein Thema gewählt, das auf die Anfänge der Associació de Germanistes de Catalunya zurückgeht.
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Das erste Symposion, das wir organisierten, war ein Symposion über Realismus. Es gab nur eine Sektion, keine fünf wie bei diesem, und wir hatten auch nicht so viel Publikum wie jetzt: wir beschränkten uns auf einige wenige Enthusiasten der deutschsprachigen Literatur. Es waren wenige aber exquisite, könnten wir im Nachhinein sagen, engagiert, gesprächs- und diskussionsfreudig. Geredet und diskutiert wurde über Heine, über den Naturalismus, über Brecht, und ich erinnere mich an einen Vortrag von José María Valverde, der die sehr diskussionsfördernde Theorie aufstellte, dass Heine ein Romantiker und Rilke viel realistischer als Brecht sei. |
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Damals hat Brecht in den Vorlesungen zur deutschsprachigen Literatur eine wichtige Rolle gespielt. Er erweckte großes Interesse, viele Seminararbeiten wurden über ihn geschrieben, die Aufführungen seiner Werke wurden gespannt erwartet und diskutiert. |
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Heutzutage ist das Interesse offensichtlich zugunsten der Romantik gewendet. In den letzten Jahren wurden in unserem Institut eher Doktorarbeiten zu Themen der Romantik geschrieben: vor 15 Jahren wurden dagegen eher Arbeiten zu Brecht, dem Dokumentartheater, sozial engagierten Themen eingereicht. |
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Ich möchte jetzt nicht die Argumentation Valverdes aufgreifen und Heine romantisch, Rilke realistisch behandeln, aber ich möchte doch versuchen, zu den Problemen, die wir uns vor 20 Jahren stellten, einen Bogen zu schlagen, und sehen, was aus ihnen geworden ist. Dafür gehe ich von Brechts Rezeption in Spanien aus und versuche, neue Fragen aufzustellen. |
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Meine Generation hat Brecht in direktem Zusammenhang mit dem Antifranquismus rezipiert. Wir sind Zeugen heimlicher Amateuraufführungen gewesen, haben bei den Vorführungen Schwierigkeiten mit der Zensur erlebt, Aufführungsverbote in letzter Minute erfahren. Aus seinen Werken haben wir hauptsächlich eine Kampfbotschaft, eine kunst- und gesellschaftskritische Botschaft rezipiert. Und es war sehr wichtig für uns, ihn so zu rezipieren: Es hat unsere Perspektiven erweitert, und Brechts Theater ist zum bedeutenden Teil eines Projektes gesellschaftlicher, politischer und künstlerischer Erneuerung geworden. |
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Wir waren damals, in den 70er Jahren, junge Studenten. Studenten, die ins Theater gingen, um einen ästhetischen Genuss zu haben, diesen Genuss aber im Zusammenhang mit Ideen zur gesellschaftlichen und künstlerischen Erneuerung suchten. Beides ging zusammen, und alles wurde den Erneuerungsideen untergeordnet. Ohne es zu wissen, waren wir Schillerianer und sahen die Bühne als Tribüne an. Der vor wenigen Jahren vergangege Mai 68 bedeutete in unserem Horizont eine mehr oder weniger aktive Resistenzhaltung gegen den Franquismus und ein in der Tradition der Aufklärung stehendes Bewusstsein von Modernität. |
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In diesem Kontext erinnere ich mich an Inszenierungen von Ricard Salvat (Der gute Mensch von Sezuan, Furcht und Elend des Dritten Reiches), von José Monleón, der in den Zeitschriften Primer Acto und Triunfo sehr viel für die Bekanntmachung von Brecht in Spanien getan hat, von Lluís Pascual und Fabià Puigserver (Mahagonny, Leben Eduards des Zweiten von England, Der gute Mensch von Sezuan), von Juan Antonio Hormigón, von der Gruppe Tábano, von Jaume Melendres. Ich möchte auch an die Übersetzungen von Feliu Formosa und jetzt von Miguel Saenz erinnern, oder an die Mutter Courage, die Lluís Pascual im Teatro Nacional in Madrid inszeniert hat. Damit erwähne ich aber nur einiges, was ich gesehen und was mir in Erinnerung geblieben ist: es gab noch viel mehr¹.
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Inzwischen wird Brecht kaum mehr aufgeführt. Die Zentenarfeier vor zwei Jahren hat einige Änderungen für ein Jahr gebracht: In Barcelona wurden zum Beispiel Die Kleinbürgerhochzeit, Im Dickicht der Städte und Herr Puntila und sein Knecht Matti aufgeführt. Aber schon ein Jahr danach ist Brecht wieder fast völlig von den Bühnen verschwunden. Die Zeiten haben sich geändert, und Brecht scheint seine Aussagekraft verloren zu haben. Er ist zwar in den Kanon eingegangen, ist aber in Gefahr, auf bestimmte Interpretationen reduziert zu werden und in ihnen als Museumsstück fixiert zu bleiben, wenn er nicht weiter diskutiert wird. Ein Werk kann die Zeit nur dann überstehen, wenn seine Leser jeweils andere und neue Lesarten finden. Das Werk wäre wie ein Steinbruch an Sinnmöglichkeiten, breit, aber nicht unbegrenzt: nicht alle Sinngebungen sind möglich. Ich möchte meinen Beitrag hier aus dieser Perspektive halten, und möchte Überlegungen zu möglichen Lesarten von Brechts Texten vorschlagen. Dies geschieht ganz konsequent seinem im Jahre 1925 ausgesprochenen Wunsch gemäß, ein Werk zu schaffen, das zum Essen, zum Ändern, zum Benützen da sei.
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Die heutigen negativen Kritiken zu seinem Werk halten es (oder zumindest einen großen Teil davon) für ungültig und berufen sich dafür auf die gesellschaftskritischen Interpretationen, die aus der Entstehungszeit und der Funktion seiner Werke zu verstehen und nicht mehr auf heute übertragbar seien.
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Aus der Zeit und den Umständen, in denen in Spanien Brecht rezipiert wurde, sind tatsächlich einige der Probleme zu verstehen, die seiner heutigen Inszenierung auf den Bühnen im Wege stehen. Auf die möchte ich jetzt eingehen, um dann Möglichkeiten zu skizzieren, sie zu überwinden. Ich werde die wichtigsten dieser Probleme, oder Beschränkungen im Lesen von Brechts Werken, in fünf Punkten zusammenfassen, und folge bei einigen von ihnen den Argumenten von José Monleón während des Kongresses, der in Sevilla zu Brechts Zentenarfeier organisiert wurde².
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An erster Stelle erweist es sich als gravierend, dass sein Werk auf ein einziges Schema reduziert worden ist: das Schema des epischen Theaters, von Brechts marxistischer Position aus definiert und auf seine Lehrfunktion beschränkt. Der didaktisch erhobene Zeigefinger wäre somit das Wesentliche bei seinen Werken, und sein ganzes Theater wird, sozusagen, auf diesen Aspekt hin "tiefgefroren".
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2. |
Im Zusammenhang damit steht ein gründliches Unwissen über Brechts Evolution. |
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3. |
Die politische Realität Spaniens und die Rolle der Zensur sind nicht zu unterschätzen bei der Rezeption von Brechts Stücken. Brecht wurde zum Synonym, zur Fahne für Antifranquismus, und zur Fahne auch für eine Haltung gegen das offizielle, kulinarische Theater. Wenn man sich für Brecht einsetzte, wurde man sofort von einem Mantel, einer Aura umhüllt, die einen auswies, als ob man sich mit Schildern behängt hätte, die Folgendes aussagten: Antifranquismus, Modernität, Progressivität, sozialkritische Haltung, Befürworter einer Kunst, die eine Botschaft an die Gesellschaft brachte. Damit im Zusammenhang steht dann auch der nächste Punkt. |
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4. |
Dass Brecht Synonym zu Antifranquismus wurde, hatte eine übermäßige Verknüpfung seines Werkes mit dem geschichtlichen Konflikt zwischen Marxismus und Kapitalismus als Konsequenz, so dass im Laufe des Zusammenfallens des "real existierenden Sozialismus" Brechts Werke auch damit in Zusammenhang gebracht wurden und anachronistisch erschienen. Als ob an seinen Werken der Lauf des "realen Sozialismus" bemessen und bewertet werden sollte. Etwas, was übrigens auch bei den Diskussionen um Christa Wolf eine Rolle spielt. Es ist, als ob man sich wegen der katastrophalen Entwicklung der Sozialismusstaaten entschuldigen müsste, bestimmte Werke zu besprechen oder zu schätzen. An ihr gemessen, wären Brechts Werke völlig anachronistisch. |
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5. |
Ein weiterer wichtiger Punkt wäre noch die Realität des "Illusionistischen" Theaters in Spanien zur Zeit der ersten Brechtrezeption. Und zwar war es illusionistisch nicht ausgebildet genug, um eine Verfremdung nicht fragwürdig erscheinen zu lassen. In diesem Zusammenhang möchte ich eine Anekdote erwähnen, die Monleón zu seinem ersten Versuch einer Brechtinszenierung in Zusammenhang mit Ricard Salvat erzählt, aber nicht publiziert hat. Sie wollten Brecht inszenieren, und Salvat erläuterte weitläufig, was der Verfremdungseffekt für die Arbeit der Schauspieler bedeute, versuchte ihnen klarzumachen, was der Gestus sei, oder die Notwendigkeit der Masken oder Stelzen, um die Theaterillusion zu zerstören. Die Fassungslosigkeit der Schauspieler erklärt Monleón aus der einfachen Tatsache, dass es keine Theaterillusion gab. Während auf der Bühne das Spiel anfing, wurden im Zuschauerraum noch Bonbons und Schokolade ausgerufen, und die erste Schauspielerin, die großen Wert darauf legte, pünktlich anzufangen, aber manchmal nicht mit dem Umkleiden fertig war, lief auf die Bühne und rezitierte ihre Rolle, während ihr vielleicht noch die Haare oder die Schminke zurechtgemacht wurden. Wenn die Theaterillusion nicht existierte, wenn das Theater als Scheinwelt offensichtlich war, was und wie wollte man verfremden? |
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Die Konsequenz davon war, dass Brecht entweder nicht auf orthodoxe Weise verfremdet wurde, und das war wahrscheinlich der beste Brecht, so wie ihn die Gruppe Tábano oder Fabià Puigserver inszenierten, oder dass er orthopädisch gestelzt verfremdet erschien wie bei einigen der sehr starren ersten Inszenierungen Salvats.
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Die heutigen negativen Kritiken gehen davon aus, dass uns der didaktisch erhobene Zeigefinger, dieses eine Botschaft vermittelnde, nicht mehr interessieren kann: es hat seine Funktion getan - für uns. (Wobei man nicht vergessen sollte, dass diese belehrende Funktion in Lateinamerika, in Brasilien z.B., oder in Südafrika noch sehr gefragt ist und bei den Inszenierungen eine große Rolle spielt.)
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Es würde nun darum gehen, Brecht wiederzulesen, um aus den engen Wegen dieser Rezeption herauszufinden.
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Brecht hat mit Enthusiasmus an Hölderlins Sprache in der Übersetzung der Antigone gearbeitet. Und Hölderlin hat in Zusammenhang mit seinen Übersetzungen die Idee formuliert, dass die Bedeutung, der Inhalt eines Werkes sich im Laufe der Zeit offenbart durch den Übergang in verschiedene Sprachen, durch, könnten wir sagen, eine Kette von Lektüren und Lesern, die über die Epochen und die einzelnen Sprachen geht.
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Brecht selber hat an seinen Werken in der Praxis dauernd Änderungen vorgenommen. Er tendierte dazu, sie als nicht abgeschlossen zu sehen und hat selber Werke von anderen Autoren umgearbeitet, geändert.
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Diesen Ideen folgend, den Sinn seiner Werke nicht als fixiert zu sehen, sollten wir jetzt versuchen, Aspekte an ihnen zu finden, die wenigstens hier bei uns vernachlässigt oder überhaupt nicht rezipiert worden sind.
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An erster Stelle wäre sicherlich der poetische, der lyrische Aspekt.
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Im bekannten Gedicht An die Nachgeborenen beklagt Brecht seine Zeit als eine Zeit wo „ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist // weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“, eine Zeit in der „der Lachende // die furchtbare Nachricht // Nur noch nicht empfangen (hat)“³.
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Diese Bilder beschreiben gut sein Verhältnis zur poetischen Sprache, zur Lyrik: Er würde gern über Bäume sprechen, nur… es ist ein Verbrechen. Aber dann und wann entfährt es ihm. In vielen seiner Werke sind Momente einer sehr hohen poetischen Intensität. Um nur zwei Beispiele zu nennen:
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— das Duo von Jenny und Paul über den Flug eines Kranichpaars in Mahagonny: unter randalierenden Unmenschen plötzlich ein Liebesgedicht, und zwar für Karl Kraus das schönste Liebesgedicht der deutschen Literatur:
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JENNY |
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Sieh jene Kraniche in großem Bogen |
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PAUL |
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Die Wolken, welche ihnen beigegeben |
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JENNY |
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Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen |
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PAUL |
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Aus einem Leben in ein andres Leben. |
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JENNY |
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In gleicher Höhe und mit gleicher Eile |
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BEIDE |
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Scheinen sie alle beide nur daneben. |
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JENNY |
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Dass so der Kranich mit der Wolke teile |
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Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen |
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PAUL |
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Dass also keines hier verweile |
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JENNY |
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Und keines andres sehe als das Wiegen |
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Des andern in dem Wind, den beide spüren |
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Die jetzt im Fluge beieinander liegen. |
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PAUL |
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So mag der Wind sie in das Nichts entführen |
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Wenn sie nur nicht vergeben und sich bleiben |
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JENNY |
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Solange kann sie beide nichts berühren |
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PAUL |
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Solange kann man sie von jedem Ort vertreiben |
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Wo Regen drohen oder Schüsse schallen. |
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JENNY |
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So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben |
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Fliegen sie hin, einander ganz verfallen. |
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PAUL |
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Wohin ihr? |
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JENNY |
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Nirgendhin. |
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PAUL |
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Von wem entfernt? |
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JENNY |
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Von allen. |
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PAUL |
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Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen? |
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JENNY |
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Seit kurzem |
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PAUL |
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Und wann werden sie sich trennen? |
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JENNY |
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Bald. |
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BEIDE |
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So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.4 |
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Und auch die Szene des Hatelmaberges beim Puntila, wo der betrunkene Puntila seinen Knecht Matti mit Tischen und Stühlen den Hatelmaberg in seinem Zimmer aufbauen lässt und von dort aus eine wunderschöne Beschreibung einer intakten Natur gibt (die er nicht sehen kann):
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Dann frag ich: wo gibt's so einen Himmel als über Tavastland? Ich hab gehört, er ist an andern Stellen blauer, aber die Wolken gehn feiner hier, die finnischen Wind sind behutsamer, und ich mag kein andres Blau, und wenn ich es haben könnt. Und wenn die wilden Schwän aus den Moorseen auffliegen, dass es rauscht, ist das nichts? Lass dir nichts erzählen von anderswo, Matti, du wirst beschissen, halt dich an das Tavastland, ich rat dir gut5.
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Es geht eben um die Bäume, über die man nicht reden darf weil es einem Verbrechen gleichkommt, die aber für das Überleben unentbehrlich sind, könnten wir sagen. Diese unmöglichen, aber notwendigen Bäume zeigen sich im Flug der Kraniche, aber auch in der Vitalität der Kleinbürger, die, nachdem sie von allen Hochzeitsgästen verlacht worden sind, und nachdem ihre hausgemachten Möbel zusammengebrochen sind, doch noch ins Bett springen (das natürlich auch kaputtgeht), oder in der bedingungslosen Liebe von She - Te zum Flieger6.
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Oder auch im Kaukasischen Kreidekreis bei der Flucht von Grusche mit dem Kind gen Norden: Grusche singt ein Kriegslied — die Soldaten, die sie verfolgen, singen ein Liebeslied.
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GRUSCHE singt: |
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Vier Generäle hin Zogen nach Iran. Der erste führte keinen Sieg Der zweite hatte keinen Sieg Dem dritten war das Wetter zu schlecht Dem vierten kämpften die Soldaten nicht recht. Vier Generäle Und keiner kam an. |
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Sosso Robakidse Marschierte nach Iran. Er führte einen harten Krieg Er hatte einen schnellen Sieg Das Wetter war ihm gut genug. Und sein Soldat sich gut genug schlug. Sosso Robakidse Ist unser Mann.7 |
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[...] |
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DIE BEIDEN PANZERREITER singen: |
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Zieh ins Feld ich traurig meiner Straßen muss zu Hause meine Liebste lassen. Solln die Freunde hüten ihre Ehre. Bis ich aus dem Felde wiederkehre. |
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DER GEFREITE: Lauter |
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DIE BEIDEN PANZERREITER |
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Wenn ich auf dem Kirchhof liegen werde bringt die Liebste mir ein Handvoll Erde. Sagt: Hier ruhn die Füße, die zu mir gegangen Hier die Arme, die mich oft umfangen.8 |
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In den lyrischen Momenten von Brechts Werken liegt ein Potential an Menschlichkeit, das weitgehend den didaktisch moralisch erhobenen Finger übertrifft. Besonders deshalb, weil sie Momente darstellen, die an der Entwicklung der Handlung zerbrechen, so dass sie als nicht realisierte Möglichkeiten bestehen bleiben, auf Melancholie und Sehnsucht hinweisend. Als ob sie als Zeichen für eine Menschlichkeitsutopie stehen würden...
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In diesen Momenten gibt es keine Arroganz des erhobenen Zeigefingers. Und gerade weil wir weder die Wahrheit einer Utopie ausbilden können, noch die Arroganz eines erhobenen Zeigefingers ausstehen, bewegt uns die Suche, auch die ironische Thematisierung der Suche, einer Menschlichkeitsutopie. Heiner Müller, intellektueller Erbe Brechts, sagte bekanntlich von Brecht, dass er „ein lyrisches Genie war, das durch die Weltlage ins Drama verstoßen wurde. Der Rest war Störungssuche, und diese Störungssuche, das sind die Parabeln“.
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Brecht war auch ein Theatergenie, trotz Müllers Worten. Aber er war auch ein lyrisches Genie, und es stimmt, dass in seinen Werken das Lyrische oft vergessen worden ist zugunsten der Ideen, der roten Fahne, die man, sozusagen, aus dem Fenster der Aufführung hängte.
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Das wäre ein erster Aspekt.
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Ein zweiter, der zu wenig Beachtung bei uns gefunden hat, wäre der komische, ironische, beißende Aspekt. Dieser geht viel weiter als bis zur Verfremdung, zum V-Effekt und zum didaktisch erhobenen Zeigefinger, und beinhaltet ein befreiendes Element, das auch mit Katharsis, mit Aristotelischem, mit Kulinarischem zu tun hat — trotz Brechts Theorien. Er bemühte sich zum Beispiel sehr, im Dreigroschenroman den kritischen Gehalt der Dreigroschenoper klar zu machen und auszubauen — und der Roman hat nie die Qualität und Anziehungskraft der Dreigroschenoper besessen.
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Auch das tragische Element gerät ihm außer Kontrolle, spiel in die Verfremdung hinein, stellt sie in Frage. Bezeichnend dafür sind die ersten Aufführungen der Mutter Courage in Zürich und Brechts Reaktionen darauf:
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1941 wurde sie nicht mit Paul Dessaus Musik, sondern mit einer melodischen Musik von Paul Burkhard im Stil der 20er Jahre uraufgeführt: Die Aufführung hatte großen Erfolg, und Hans Mayer schrieb in seinen Erinnerungen an Brecht, dass der Autor wütend war, weil keine Verfremdung aufgekommen sei. Daraufhin legte er fest, dass das Stück nur mit Dessaus Musik gespielt werden dürfe. Aber sowohl Therese Giehse als Mutter Courage wie Hans Meyer als Kritiker erinnern sich nostalgisch an die Musik der Uraufführung9.
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1948 wurde Mutter Courage zu Ehren des zurückgekehrten Brechts wieder in Zürich aufgeführt, 1949 außerdem in Leipzig, und beide Male sehr erfolgreich. Aber Brecht zeigte sich weiterhin wütend, weil in den Kritiken Mutter Courage als Niobe besprochen wurde, oder weil der marxistische Kritiker Erpenbeck eruirte, ob sie im Laufe des Werks etwas lernt und sich wandelt oder nicht. Brecht verweigerte es, bei den Zusachauern Gefühle für seine Figur entwickeln zu lassen: die Wandlung der Figur sei eine gleichgültige Nebensache, und der Zuschauer sei derjenige, der sich wandeln müsse10.
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Ein sehr fruchtbares Missverständnis, Mutter Courage mit Tragik zu identifizieren, beansprucht G. Tabori11 für sich, aber auch die Inszenierung der Mutter Courage von Lluís Pascual für das Teatro Nacional im Jahr 1986.
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Bei dem Verhältnis zwischen Tragik und Verfremdung hat sich im Laufe der Zeit noch ein weiteres Problem ergeben: eine gewisse Automatisierung der Mittel, Verfremdung zu erzeugen.
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Brecht hat die Verfremdung als Instrument für sein Theater definiert und Vorschläge zu Methoden gemacht, die Verfremdung zu erreichen, sprich: die Distanzierung, die Zerstörung der „kulinarischen“ Theaterillusion propagiert. Damit folgt er einer Tradition: Schon die russischen Formalisten hatten die Verfremdung als die Charakteristik der Kunst überhaupt, der Sprache der Kunst, angesehen. Kunst sei ein Sprachverfahren, sei erschwerte Sprache, mit dem Zweck, die automatisierte Perzeption der Wirklichkeit zu durchbrechen, für den Leser oder Betrachter den Stein wieder steinern zu machen, den Schmerz schmerzend.
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Brecht entwickelte eine Technik der Verfremdung. Er machte den Verfremdungseffekt zu einem fundamentalen Instrument seiner Aufführungen, und zwar mittels Unterbrechung, Zitat, Ironie. Eine Ironie, die aber nicht wie die romantische Ironie auf die Welt als Theater, auf eine Sehnsucht nach universeller Harmonie verweist. Brechts Ironie verweist im Prinzip auf einen didaktischen Inhalt. Nur geschieht es manchmal, dass sich ihm Zitat, Parodie und Ironie verselbständigen und die Didaktik zu Gunsten des Spieles unterwandern.
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Wenn wir die Kunst als Mechanismus der Desorientierung ansehen, als Sprache, die uns eine neue Sicht der Wirklichkeit ermöglicht, hat Brecht diese Kunst geschaffen. Nur: mit der Zeit und ihem Verbrauch wird jede Kunstsprache automatisiert, versteinert. Unser Problem mit Brecht ist nicht nur, dass wir ihn aus einer didaktisch moralisierenden Haltung des erhobenen Zeigefingers rezipiert haben, sondern auch, dass seine Sprache, seine Verfremdungsvorschläge, automatisiert und mechanisiert worden sind: sie provozieren und verfremden nicht mehr.
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Als Brecht schrieb, dass sein Theater zum „essen, ändern, benützen“ (Arbeitsjournal 1925) sei, hatte er eine klare Vorstellung davon, wie es benützt werden sollte. Wenn wir also konsequent mit seinem Vorschlag umgehen, kommen wir zu H. Müllers radikaler Formulierung: „Brecht zu benützen, ohne ihn zu kritisieren, ist ihn verraten“.
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Bei diesem Auflisten von Gedanken zu den Schwierigkeiten und Notwendigkeiten, Brecht aufzuführen, kann es nützlich sein, Brechts Bearbeitungen von anderen Autoren zu beachten. Man weiß, dass er „eine grundsätzliche Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“ gezeigt hat; mit dieser Formulierung hat er jedenfalls beiläufig den Skandal um die Villon-Übersetzungen in der Dreigroschenoper abgetan. Er selber hat das „essen, verändern, benützen“ mit der Tradition praktiziert. Wenn er sich vornimmt, einen Autor, ein Stück zu inszenieren, tut er das natürlich auch. Und er führt es mit einer radikalen Konsequenz aus.
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Beim Leben Eduards des Zweiten von England von Christopher Marlowe (von dem Lluís Pascual und Fabià Puigserver 1983 eine bemerkenswerte, erinnerungswürdige Inszenierung im Teatre Lliure machten) kürzt und vereinfacht er Marlowes Stück auf drastische Weise. Er arbeitet mit Feuchtwanger zusammen. Sie benützten -und zitierten!- die Übersetzung von Walter Heymel, arbeiten aber auch direkt am Original, variieren Fragmente. Bei der Arbeit an dieser Inszenierung beginnt Brecht mit der Arbeitsweise, die dann typisch für ihn sein wird: Teamarbeit mit Diskussionen, bei der immer neu ausprobiert und variiert wird.
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Brechts Bearbeitung vereinfacht die Handlung, die bei Marlowe sehr komplizierte und breitgefächerte politische Intrigen aufzeigt. Indem Brecht sie vereinfacht, entpolitisiert er nur dem Anschein nach den Inhalt des Stückes. Indem die Handlung sich sehr auf die Schwierigkeiten und Launen des Königs konzentriert, werden die Konsequenzen seines Lebenswegs auf die Bevölkerung viel klarer gemacht, und indem die Bevölkerung einen größeren Protagonismus erhält, bekommt das Stück -in den 20er. Jahren- einen politischen und aktuelleren Wert. Die Konsequenzen einer bestimmten Politik für die Bevölkerung werden klargemacht; zum Beispiel, Krieg und Hunger. In den goldenen 20er Jahren gibt diese Perspektive dem Stück eine große Aktualität, die für die Zuschauer ersichtlich wird, ohne dass man die Protagonisten in moderne Kleidung steckt oder von der sehr beeindruckenden Verssprache absieht. Abgesehen von dieser „didaktischen Arbeit“, könnten wir sagen, dass Brecht aber such etwas Neues am Stück realisiert: Er arbeitet an den Figuren vom König und seinem Geliebten Gaveston. Das Drama wird personalisiert. Und der König wird bei seinem Tod in einer problematischen, attraktiven und auch, wieder, tragischen Zweideutigkeit gezeigt. Bei seinem Tod ist er nämlich:
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„Unwissend, wie es scheint, wer von seinen
Feinden
Sich seiner noch erinnerte, unwissend, welch
Geschlecht über seinem Haupt im Licht war,
Farb
Des Baumlaubs nicht wissend, Jahreszeit nicht
Noch Stand der Gestirnbilder, sein selbst
Vergessend, im Elend
Verstarb“.12
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Eduard kommt damit in die Reihe der nicht wissenden, der gleichgültigen, der am Rande stehenden Figuren, wie sie z.B. in der Hauspostille geschildert werden. Und wieder wird ein disharmonisches Signal in die Didaktik des Stückes gesetzt.
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Alle Inszenierungen, die Brecht von anderen Autoren vorgenommen hat, folgen diesem Kriterium des „Benützens“ je nach Lage und Absicht. Bei der Bearbeitung von Gorkis Mutter intensiviert Brecht alles das, was sich auf revolutionäre Kampfmethoden im Untergrund bezieht, und zwar in einer Zeit, die dem Nazismus schon sehr nahe steht: im Jahr 1932. Bei Molières Don Juan verliert Don Juan seine Aura und persönliche Anziehungskraft, seinen Individualismus, um zu einem aufgeblasenen Räpresentanten eines dekadenten Standes zu werden, der kalt und teilnahmslos handelt.
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Brecht hat längere Zeit gebraucht, bis er sich an Shakespeare herangetraut hat. Eigentlich verdanken wir das Leben Eduards des Zweiten dieser Zurückhaltung: der Vertrag, den Brecht mit den Münchner Kammerspielen 1922 unterschrieben hatte, stand eine Shakespeare-Inszenierung vor. Er hat statt dessen Marlowe aufgeführt und hat erst 1925 Shakespeares Coriolan bearbeitet. Bei Brecht tendiert Coriolan zu einer Figur zu werden, die im Verlauf der Handlung immer unnützer wird, auf die man letzten Endes verzichten kann, weil das Volk Roms immer wichtigere Funktionen gewinnt. Seine Tragödie besteht bei Brecht darin, dass die Geschichte ohne ihn verläuft, letzten Endes sogar gegen ihn. Er verliert die zentrale Stellung, die er bei Shakespeare hat, und die Perspektive verlegt sich vom Subjekt und seiner persönlichen Tragödie nach außen, in den geschichtlichen Verlauf hinein.
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Ich sprach vorher von einer Haltung gegenüber den Werken, die Brechts „essen, benützen“ beherzigt. Das Werk wäre als eine Art von Steinbruch anzusehen, aus dem verschiedene mögliche Bedeutungen herausgeschlagen werden sollten. Dabei sind die Bedeutungsmöglichkeiten verschieden, aber begrenzt. Unterschiedliche -aber nicht alle!- Lesarten sind möglich. Bis jetzt war die Rede von utilitaristischen Haltungen, von Benützen und Ändern, wie es Brecht selber machte, und auch von lyrischen Stellen als Leerstellen, die viel weiter als jede didaktische Intention gehen. Jetzt möchte ich aber doch noch etwas zu den Grenzen dieser Haltungen und Vefahrensweisen sagen.
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Denn die Perspektive, die den Werken und Bearbeitungen zu Grunde liegt, geht von einer -je nach Lebensepoche mehr oder weniger konkreten- Menschlichkeitsutopie aus, die eine große Vitalität besitzt. Die Konzeption, die ihr zu Grunde liegt, ist politisch in einem sehr weiten Sinne: Sie bringt eine kritische und provozierende Konzeption der Gesellschaft und der Geschichte zum Vorschein, und diese dürfte bei den Inszenierungen nicht verlorengehen. Anders gesagt: Brechts Werk ist mit den von der Aufklärung geerbten Idealen der Emanzipation der Menschheit verbunden, er ist ein Klassiker der Moderne, und er sollte als solcher gelesen werden.
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Damit würden wir in eine praktische Diskussion kommen, die jede individuelle Lesart, jede Inszenierung von einem Stück, führen muss. Aber solange sie gemacht wird, solange man polemisieren kann, ob es, z. B., sinnvoll ist den Kaukasischen Kreidekreis in den Bosnienkrieg zu verlegen oder Die Dreigroschenoper in den Technopop oder wie man die Verfremdung verfremden kann, so lange wird Brechts Werk weiterleben.
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Brecht hat seine Zeit für eine Zeit gehalten, in der man nicht über Bäume reden dürfte, weil das fast einem Verbrechen gleichkam. Aber er hat es nicht geschafft, nicht über sie zu reden. Er gehörte einer Generation an, die Länder öfter als Schuhe wechselte, die wusste, dass
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„Auch der Hass gegen die Niedrigkeit
verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.“.
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Brecht besaß in den dreißger Jahren ein Exemplar des Oráculo Manual y Arte de Ingenio von Baltasar Gracián, von A. Schopenhauer übersetzt als Handorakel und Kunst der Weltklugheit, in Leipzig bei Insel 1931 verlegt. Walter Benjamin hatte es ihm geschenkt. Brechts Exemplar ist an vielen Stellen unterstrichen, es ist offensichtlich, dass er es intensiv gelesen hat. Aus seinen Unterstreichungen kann man einiges zu seiner Lebenshaltung in diesen Jahren sagen, und damit neues Licht auf Interpretationsmöglichkeiten werfen. Als Widmung hatte Benjamin dem Handorakel ein Zitat aus der Dreigroschenoper vorangestellt: „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug“.
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Sollte nun Brecht, Benjamin zufolge, die Schlauheit durch Weltklugheit ersetzen? Sollte die Weltklugheit eine Lebenshilfe in schwierigen Zeiten sein? Und: Was für eine Weltklugheit? Die "Verhaltensregeln", die Weltklugheit, die der spanische Jesuit im Jahr 1647 seine Zeitgenossen lehrt, scheinen für eine Zeit gedacht, in der der Mensch gefährlich lebt, in einer Gesellschaft, wo ihm die moralischen Überlegungen, die Verhaltensregeln, die sich von ihnen leiten lassen, nicht viel helfen: wo eher strategisches und taktisches Denken zum Überleben notwendig sind. Wo Gefühle eine Schwäche sind, die man verstecken muss, um sie höchstens zu heucheln, wo man die eigene Menschlichkeit verbergen muss.
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Durch den Vorschlag von Benjamin, durch das Lesen von Benjamin und Brecht wird die Zeit von Gracián den 30er Jahren angenähert. Für beide Zeiten ergibt sich eine als gefährlicher Raum konstituierte Gesellschaft, in der das Individuum aus den Augen der anderen her definiert wird. Es sind die Mitmenschen, die ihn festlegen, die über ihn entscheiden: über seine Moralität, über seine Ehre, über seine politische Haltung. So dass der Mensch sein Leben praktisch als einen konstanten Auftritt auf einer unendlichen Bühne führt, oder führen muss. Und die Mitmenschen sich als potentiell gefährliche Instanzen erweisen, vor denen man sich durch strategisches Handeln zu schützen hat13.
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Es ist interessant zu sehen, welche Maximen Brecht unterstrichen hat. Als ob er sich ein eigenes Handorakel des Verhaltens und des Überlebens konstruiert hätte... Ich zitiere einige von ihnen, nach Themen geordnet.
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Als Verhaltensregel für eine gefährliche Zeit: |
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"Für den Behutsamen gibt es keine Unfälle und für den Aufmerksamen keine Gefahren"
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Zum Verhältnis zu den Mitmenschen: sie als potentielle Feinde anzusehen, sie auf Distanz zu halten, in der Lage sein, sie anfallen oder kaputtmachen zu können: |
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"Die Hoffnung zu erhalten, aber nie ganz zu befriedigen"
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"Die Daumschraube eines jeden finden. Diese Götzen eines jeden kennen, um mittels desselben ihn zu bestimmen" |
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"Über sein Vorhaben im Ungewissen lassen - Man ahme daher dem göttlichen Walten nach, indem man die Leute in Vermutungen und Unruhe erhält." |
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"Sich zu entziehen wissen" |
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"Nie mehr Kraft verwenden, als gerade nötig ist" |
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"Ist man noch im Werden, so halte man sich zu den Ausgezeichneten, aber als gemachter Mann zu den Mittelmäßigen." |
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"Seinen heutigen Freunden traue man so, als ob sie morgen Feinde sein würden, und zwar die schlimmsten." |
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"Nie die Ehre jemandem in die Hände geben, ohne die seinige zum Unterpfand zu haben." |
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"Eine große Feinheit beim Geben besteht darin, dass es wenig koste und doch sehr ersehnt sei." |
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"Das Schwierigste beim Laufen ist das Stillestehen" |
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"Wer nichts weiß, der lebt auch nicht" |
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Etwas schwer zu vereinbaren mit dem Vorhaben, die Anderen als potentielle Feinde zu sehen, ist folgende Aufforderung:
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"Man suche sich jemanden, der das Unglück tragen hilft"
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Bemerkenswert ist das Ausrufezeichen, das neben dem angeblich von Felipe II stammenden Satz steht:
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"Die Zeit und ich nehmen es mit zwei andern auf"
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Und das Fragezeichen neben:
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"Nie aus Mitleid gegen den Unglücklichen, sein Schicksal auch sich zuziehn",
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etwas, was Brecht dann im Laufe des Exils, auf seinem Weg über Moskau z.B., selber praktiziert hat, indem er Freunde oder Freundinnen ihrem Schicksal übergelassen hat. Es scheint, als ob Brecht sich von Gracián aus ein eigenes Verhaltens-Handorakel zusammenstellen würde. Der gemeinsame Nenner seiner Maximen wäre die Funktion, Distanz zu schaffen zwischen sich und den anderen, das Überleben des Individuums zu sichern in einer gefährlichen und aggressiven Gesellschaft, in der die Augen der anderen immer potentielle Feinde sind.
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Die Distanz, und mit ihr die Verfremdung, erhalten aber damit eine neue Nuance: sie sind nicht nur ein Instrument der Provokation, sie können auch ein Schutzmittel, sogar ein körperliches, sein.
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Ich sitze am Straßenrand Der Fahrer wechselt das Rad. Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. Warum sehe ich den Radwechsel Mit Ungeduld?14
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Das wäre der Brecht, den ich lese. Er beendet sein Gedicht An die Nachgeborenen mit einer captatio benevolentiae:
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Ihr aber, wenn es so weit sein wird Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist Gedenkt unser Mit Nachsicht15
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Die Zeiten sind ganz offensichtlich nicht gekommen. Und ich weiß nicht, ob wir optimistisch sagen können, dass sie noch nicht gekommen sind. Wir können zweifellos weiterhin Brecht lesen. Als "estratega del mejoramiento de la condición humana", wie J. A. Hormigón sagt, oder als lyrischer Genie, Heiner Müller folgend, oder als "ironischer, katastrophaler, grandioser Rettungsversuch", wie es Ingeborg Bachmann in ihrem Essay über Literatur als Utopie16 tut, oder sogar, wie Jaume Melendres, als "imprescindible para la salud pública"17.
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Anmerkungen:
1: |
Eine gute Übersicht über die Inszenierungen von Brechts Stücken in Spanien gibt der Artikel von J. A. Hormigón "Brecht en España. Una aventura de Indiana Jones". In: ADE Teatro nº 70-71, octubre 1998, pgs. 208-222. Auch X. Fàbregas, "Brecht en Catalogne", in Obliques nº 20-21, 1979, S. 193-196. |
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2: |
José Monleón: Aportaciones brechtianas a una concepción contemporánea del teatro. En: Brecht en España. Actas del Encuentro Internacional Brecht. Diputación de Sevilla: Sevilla, 1998. pgs. 22 y ss. |
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3: |
An die Nachgeborenen. Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. Frankfurt. Suhrkamp, 1997. S. 723. |
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4: |
Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, 14. Frankfurt: Suhrkamp, 1997 te. Auflage. S. 216-217. |
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5: |
Herr Puntila und sein Knecht Matti, 11. Frankfurt: Suhrkamp, 1977 te. Auflage. S. 683. |
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6: |
Siehe Die Kleinbürgerhochzeit und Der gute Mensch von Sezuan. |
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7: |
Der kaukasische Kreidekreis, 3. S. 805 |
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8: |
id., S. 808 |
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9: |
Hans Mayer: Erinnerung an Brecht. Frankfurt: Suhrkamp, 1998, bes. S. 5 und 70. |
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10: |
Siehe Hans Mayer: Erinnerung an Brecht und auch: Jan Knopf, Brecht Handbuch, Bde. Stuttgart: Metzler, 1996 |
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11: |
siehe: George Tabori. Brecht Files. In conversation with Martin Kagel and Nikolaus Merck. In: Theater der Zeit. Arbeitsbuch. The Brecht Yearbook 23. 1998. S. 70 - 76 |
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12: |
Leben Eduards des Zweiten von England. Frankfurt: Suhrkamp, 1997. S. 129 |
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13: |
Dazu: "Das Schwierigste beim Gehen ist das Stillestehen. Benjamin schenkt Brecht Gracián. Ein Hinweis" in: "Theater der Zeit. Arbeitsbuch. The Brecht Yearbook 23", 1998. S. 142-147., übersetzt in "ADE Teatro" 70-71, Octubre 1998 |
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14: |
Der Radwechsel. In den Buckower Elegien. Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. Frankfurt: Suhrkamp, 1997. S. 1009 |
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15: |
An die Nachgeborenen. Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. Frankfurt: Suhrkamp, 1997. S. 725 |
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16: |
Ingeborg Bachmann: Literatur als Utopie, in: Werke, IV, München: Piper, 1993, S. 255 und ff. |
17: |
Jaume Melendres: El destino de las semillas y de los preservativos: predicciones sobre el futuro de B. Brecht en la historia del teatro español a partir de la escena catalana. In: ADE Teatro nº 70 - 71, octubre 1998, S. 278 |
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PROF. DRA. MARISA SIGUAN BOEHMER
Departament de Filologia Anglesa i Alemanya • Secció de Filologia Alemanya
Facultat de Filologia • Universitat de Barcelona
Gran Via de les Corts Catalanes 585, 3ª planta • 08007 Barcelona
Telèfon: 0034 93 403 56 86 • Fax 0034 93 317 12 49
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