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  Zur kreativen Rückeroberung der Literatur:
Literaturvermittlung in der Auslandsgermanistik


MARIO SAALBACH ERDMANN
mario.saalbach@telefonica.net
© Mario Saalbach Erdmann 2004
UNIVERSIDAD DEL PAÍS VASCO


 
 
 

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Resumen


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Abstract

Im literarischen Pflichtfachbereich des Germanistikstudiums an spanischen Universitäten werden in aller Regel literaturgeschichtliche Übersichtsveranstaltungen angeboten, mit deren Hilfe man den Studenten einen Überblick etwa über die gattungsgeschichtliche und literaturtheoretische Entwicklung von den Anfängen der deutschsprachigen Literatur bis zur Gegenwart und die wichtigsten epochenspezifischen Charakteristika vermitteln möchte. Die überwältigende Zahl von Daten und Fakten (Autoren und ihre Werke, Einzelheiten der politischen und der Kulturgeschichte usw.) verhindern dabei allzu oft die direkte Auseinandersetzung mit jenen Phänomenen, auf die es im Literaturstudium wesentlich ankommt, nämlich mit den literarischen Texten selbst.

Dieser Beitrag über „Literaturvermittlung in der Auslandsgermanistik“ versucht daher, Alternativen aufzuzeigen, wie man Literaturveranstaltungen an der Universität organisieren bzw. strukturieren kann, damit sowohl eine direkte Auseinandersetzung der Studenten mit literarischen Texten als auch die Vermittlung eines literatur- und gesamtgeschichtlichen Überblicks ermöglicht wird.

Schlagwörter:
Handlungsorientierung, Lernerzentriertheit, Literaturdidaktik, kreatives Textverstehen
 
 
 
 
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Zur kreativen Rückeroberung der Literatur:
Literaturvermittlung in der Auslandsgermanistik

MARIO SAALBACH ERDMANN
UNIVERSIDAD DEL PAÍS VASCO

 

   
Um von vornherein Missverständnissen vorzubeugen und den Titel in dieser Hinsicht zu ergänzen, sei hier kurz darauf hingewiesen, worum es im folgenden Beitrag geht bzw. nicht geht: Es geht nicht um die Behandlung von literarischen Texten im Sprachunterricht Deutsch als Fremdsprache, sondern um die Art und Weise der Vermittlung deutschsprachiger Literatur in den spezifischen Literaturveranstaltungen innerhalb der Haupt- und Nebenfach-Germanistik. Engerer Bezugsrahmen sind dabei die spanischen Universitäten mit entsprechendem Angebot.
 
       
   
Sieht man die Programme von germanistischen Kongressen, Tagungen und sonstigen Veranstaltungen durch, findet man immer wieder Vorträge, die sich mit der Situation der spanischen Germanistik, ihrer Entwicklung, ihren Rahmenbedingungen, ihren Inhalten auseinandersetzen. So stellte auch Marisa Siguan auf einer DAAD-Tagung, 1998 in Leipzig, „Überlegungen zum Germanistikstudium in Spanien“ an, bei denen sie konkret auf das Literaturstudium eingeht. Siguan konstatiert in ihrem Beitrag, was vermutlich jeder, der über praktische Erfahrung an spanischen Universitäten verfügt, auch für andere Studiengänge bestätigen kann, nämlich dass die Veranstaltungen im spanischen Germanistikstudium im Allgemeinen „eher vorlesungsartig“ ausgelegt sind (Siguan 1998: 63) und „mehr Gesamtübersichten als monographische Themen [anbieten]; die Literatur ist literaturgeschichtlich nach Epochenbegriffen geordnet. Monographische Themen werden praktisch nur in den Wahl[pflicht]fächern (asignaturas optativas) angeboten“ (Siguan 1998: 64). Vergleichend stellt Siguan fest (ibid.): „Die spanische Lehrtradition geht mehr von Gesamtübersichten aus als die deutsche, die viel exemplarischer vorgeht und den Unterschied zwischen Vorlesung und Seminar vorsieht.“
 
       
   
Infolge einer solchen Orientierung erscheinen die literarischen Pflichtveranstaltungen in aller Regel als Übersichtsvorlesungen, in denen der Zeitraum von den Anfängen der deutschsprachigen Literatur bis zur Gegenwart abgedeckt, die wichtigsten Charakteristika der literarischen Epochen erklärt, die gattungsgeschichtlichen und literaturtheoretischen Entwicklungen aufgezeigt werden sollen. Jahreszahlen, Autoren- und Werkelisten, historische Daten zu Politik, Kultur...: die schier überwältigende Datenmenge dieses vermeintlich unerlässlichen Gesamtbildes verstellt dabei allzu oft den Blick auf das Wesentliche: den literarischen Text. Eingehendere Textanalyse und –interpretation finden zwar z.T. in den eher monographisch orientierten Wahlpflichtfächern statt, aber hier steht zumeist ein bestimmtes Leseergebnis als Lernziel im Vordergrund, wie z.B. die „Absicht des Autors“ oder irgendeine andere vorgängige Experteninterpretation. Statt eines kreativen Textverstehens erwartet man von den Studenten Interpretationsrekonstruktion, d.h. der Textinhalt wird zum a priori existierenden Datum relegiert, das zu Prüfungszwecken auswendig gelernt und dann auch wieder abgefragt werden kann.
 
       
   
Siguan postuliert eine anspruchsvolle Rolle für die Literatur in der spanischen Germanistik (cf. Siguan 1998: 68):
 
       
 
Literaturgeschichtlich geordnet und in Epochen aufgeteilt, wie sie in den Studienplänen aussieht, sollte sie meiner Ansicht nach kein positivistisch behandeltes Gesamtwissen literaturgeschichtlich übertragen, sondern beim Umgang mit den literarischen Texten Aspekte vermitteln wie: Sprachbewußtsein, Sprachmöglichkeiten, Spiel mit Sprache, Ideen und Gedankengänge, Zeitgeschichtliches, Literatur als Lebenshilfe, Alltagsbewältigung, Kulturkompetenz.
 
     
   
Diese erwünschte Rolle der Literatur dürfte jedoch mit der gängigen Literaturver- bzw. –bearbeitung in den universitären Veranstaltungen kaum zu verwirklichen sein, eben weil diese dem ästhetischen Charakter der Literatur, ihrem Prinzip des Kreativen nicht gerecht werden. In den üblichen Literaturveranstaltungen lässt sich im besten Fall ein allgemeiner literaturgeschichtlicher Überblick erstellen - wobei man sich allerdings durchaus fragen darf, was an einer mehr oder weniger chronologischen Abfolge von Jahreszahlen, Autorennamen, Titeln usw. eigentlich geschichtlich ist. Der Erfüllung der von Siguan aufgestellten Forderungen etwa nach Sprachgefühl oder Kulturkompetenz kommen wir so aber keinesfalls näher, denn die hierzu notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten lassen sich eben nicht als Daten übermitteln, sondern können nur als Ergebnis der Eigenerfahrung der Studenten gewonnen werden, für die im gängigen Studienbetrieb jedoch kaum Raum zur Verfügung steht.
 
       
   
Wo Literatur als Datum, als Positum vermittelt wird, geht ihr kreativer Aspekt fast vollständig verloren, dabei ist gerade er für Neuphilologen, von denen man gemeinhin Sensibilität für Literatur erwartet, die Fähigkeit zum kreativen Verstehen von literarischen Inhalten, besonders wichtig. Gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Situation und Entwicklung gewinnt er zusätzliche Bedeutung: Niemand wird leugnen können, dass immer weniger unserer (auch Philologie-) Studenten bei Studienbeginn auch nur ansatzweise mit dieser Fähigkeit ausgestattet sind. Allgemein wird immer weniger gelesen (wenn wir denn den immer wieder veröffentlichten statistischen Daten Glauben schenken wollen) und als Konsequenz wird auch immer weniger verstanden. Das betrifft zwar zumeist (noch) nicht die Bedeutung der einzelnen Wörter, sehr wohl aber ihre Bedeutung im Textzusammenhang, im literarischen Kontext, der oftmals – wenn überhaupt – nur noch mit großer Schwierigkeit erfasst wird. Irgend jemand hat hierfür einmal den Begriff des funktionalen Analphabetismus geprägt, und wer möchte leugnen, dass wir mit diesem Phänomen auch in den universitären Literaturveranstaltungen immer häufiger zu kämpfen haben.
 
       
   
Wie dem auch sei, die Fähigkeit, literarische (und nichtliterarische) Texte zu verstehen und ihre mögliche(n) Bedeutung(en) zu erkennen, ist nach wie vor eine unerlässliche Grundvoraussetzung für einen Neuphilologen, wenn man sich denn u.a. auch an den von Siguan aufgestellten Forderungen orientieren will. Ist aber diese Verstehensfähigkeit nicht schon vorhanden, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als sie gezielt zu schulen. Nun lässt sich die Schulung des literarischen Leseverstehens aber nicht dadurch in die Wege leiten, dass Daten über den Text von außen vermittelt werden; es ist vielmehr unerlässlich, dass sich der Student lesend mit dem Text auseinandersetzt und ihn in eine persönliche Erfahrung verwandelt. D.h. wir müssen dafür sorgen, dass Lesemotivation entsteht bzw. schon bestehende Lesemotivation verstärkt wird, denn das Lesen literarischer Texte soll ja zunächst einmal Vergnügen bereiten und Spaß machen.
 
       
   
Lesen macht aber keinen Spaß, wenn nicht kreativ mit den Texten umgegangen wird, sondern lediglich vorgefertigte Interpretationen nachvollzogen bzw. rekonstruiert werden sollen. Solche Rekonstruktionen haben außerdem nur noch denkbar wenig mit Literatur zu tun, denn – darüber besteht weitgehend Einigkeit in moderneren Literaturtheorien – Literatur entsteht erst durch das verstehende Verarbeiten eines Textes durch seinen Leser. Lesen wird dort interessant und faszinierend, wo man sich auf der Grundlage eines Textes an der Entstehung des literarischen Werks kreativ beteiligt und die Funktion des Lesens nicht darauf reduziert wird, lediglich das zu rekonstruieren, was irgend jemand irgendwann schon einmal zu diesem Text gesagt hat. Die immer wieder bemühte „Absicht des Autors“, die weiterhin oft als non plus ultra der Interpretationskunst, als Quintessenz jeglicher Textdeutung gilt, ist letzten Endes nichts anderes als mehr oder weniger legitimierte Spekulation, die natürlich durchaus von philologischem Interesse sein kann, keinesfalls aber am Anfang der Auseinandersetzung mit dem Text stehen sollte. Damit Literaturveranstaltungen ihren literarischen Inhalten gerecht werden, muss in ihnen zunächst einmal gelesen werden bzw. lesen gelassen werden, d.h. es muss Raum geschaffen und zur Verfügung gestellt werden, damit Lesen als persönliche Erfahrung ohne Interpretations- oder sonstige Lernzielvorgaben überhaupt erst einmal stattfinden kann. Denn jede Interpretations- und Lernzielvorgabe würde unweigerlich die Kreativität des Lesers einschränken und dem motivierenden Lesevergnügen entgegen wirken.
 
       
   
Nun mag man hier einwenden, Neuphilologie-Studenten könnten durchaus auch daraus Motivation beziehen, dass sie sich in die Lage versetzt sehen, vorgängige Interpretationen nachzuvollziehen und sie in entsprechende historische Kontexte einzuordnen, philologisches Lesen sei eben etwas anderes als Lesen zum Zeitvertreib. Alles das ist sicherlich richtig, es ist aber nicht einzusehen, weshalb sich nicht auch Neuphilologen trotzdem den Luxus leisten sollten, einen literarischen Text zunächst einmal unvorbelastet und kreativ zu lesen und ihr Leseergebnis als persönliche Erfahrung auf sich wirken zu lassen, bevor sie dann mit dem Text „arbeiten“. Die gesteigerte Verstehensmotivation könnte ihren Blick für die Möglichkeiten des Textes schärfen und erweitern.
 
       
   
Für eine adäquate Literaturvermittlung an der Universität halten wir es daher für unerlässlich, dass sich
 
       
    1.
die Studenten in den Veranstaltungen vor allem mit literarischen Texten beschäftigen und nicht mit externen Daten und
 
    2.
dort Freiräume für Leseerfahrung und Kreativität berücksichtigt und zur Verfügung gestellt werden.
 
         
   
Wie die schematische Darstellung eines lernerzentrierten Unterrichtsmodells veranschaulicht, wird hier ein 2-Phasen-Modell vorgeschlagen. In einer ersten Phase sollte man den Studenten immer erst eine persönliche, unvorbelastete Lektüre ermöglichen, deren Ergebnisse zunächst in kleineren Arbeitsgruppen von 3-5 Teilnehmern ausgetauscht werden, bevor dann das Plenum über die unterschiedlichen Interpretationsansätze diskutiert. Erst in der zweiten Phase wird dann das Lernziel (im Schema: landeskundliches Wissen) entweder über Zusatzinformationen eingeführt, die sinnvollerweise an Studenten-Äußerungen aus der Plenumsdiskussion anknüpfen können, oder, unter Umständen besser, über gezielte zusätzliche Fragen zum Text. Diese Fragen werden dann wiederum zuerst in Kleingruppen bearbeitet, bevor die Einzelergebnisse der Gruppenarbeit im Plenum einander gegenübergestellt und diskutiert werden.
 
       
       
   
 
PowerPoint-Präsentation: LERNERZENTRIERTHEIT
 
       
   
Durch eine solche Vorgehensweise wird das ursprüngliche, individuelle Textverstehen der Studenten potentiell erweitert, nicht aber ihre Leserkreativität eingeschränkt. Das so in die Wege geleitete lern- bzw. lesezielorientierte Textverstehen erscheint nicht als Interpretationsvorgabe, sondern wird von den Lesern nach eingehender Diskussion ihres individuellen Leseverstehens als Erweiterung und Ergänzung erfahren.
 
       
   
Bei der Formulierung der Fragen zum Text darf man sich zur weiteren Motivationssteigerung außerdem eines kleinen psychologischen Tricks bedienen, indem man nicht etwa nach „absoluten“ Textinhalten fragt, sondern die Studenten über Formeln wie „Ihres Erachtens“, „Ihrer Meinung nach“, „für Sie“ usw. direkt anspricht und sie so dazu auffordert, zum Text Stellung zu nehmen (cf. Westhoff 1977: 21). Die Veränderung von der traditionellen Form der Frage „Was ist das Thema des Textes?“ oder „Was will uns der Autor sagen?“ zur Frage „Was ist für Sie das Thema des Textes?“ erscheint zunächst unerheblich. Der Unterschied gewinnt aber an Bedeutung, wenn man sich klar macht, dass die ersten beiden Fragen auf Antworten abzielen, die der Lehrer längst kennt bzw. selbst festgelegt hat, und im Grunde nur noch die Bewertung richtig/falsch zulassen. Demgegenüber erfährt der Lerner durch die Frage nach seiner Meinung und Stellungnahme – die er natürlich auch am Text begründen muss – eine Aufwertung vom „unwissenden“ Schüler zum gleichberechtigten Gesprächspartner, dessen Beitrag akzeptiert und ernst genommen wird.
 
       
   
In Lehrveranstaltungen zur deutschsprachigen Literatur an der Universität des Baskenlands z.B. habe ich mit dieser Art zu fragen sehr gute Erfahrungen gemacht. Es macht einen großen Unterschied, ob man fragt „Wie wird Hans Schnier (die Hauptfigur aus Bölls Ansichten eines Clowns) im Text charakterisiert?“ oder „Wie würden Sie ihn charakterisieren?“, ob man die Lerner auffordert, das Verhältnis des Textes zur konkreten historischen Situation seines Entstehens festzustellen, oder ob man sie fragt „Welches Verhältnis des Textes sehen Sie zur historischen Situation der BRD in den 50er und 60er-Jahren?“ So formulierte Fragen zielen nicht in erster Linie darauf ab, dass der Lerner im Text enthaltene Informationen sucht bzw. rekonstruiert, sondern veranlassen ihn vor allem dazu, zum Text und der darin enthaltenen Information Stellung zu nehmen.
 
       
   
An einem Beispiel mit zwei kurzen literarischen Texten soll hier das konkrete Vorgehen noch einmal veranschaulicht werden, das sich entsprechend auch auf längere Texte wie Erzählungen, Romane oder Theaterstücke anwenden lässt:
 
       
   
Die Studenten erhalten zunächst Text 1 mit der Aufforderung, ihn zu lesen und ihr Leseergebnis in der Kleingruppe zu diskutieren.
 
       
   
Text 1:
 
   
Günter Eich, „Inventur“
 
   
Aus: Abgelegene Gehöfte, 1948
 
       
    Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.
   
         
    Konservenbüchse:
mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.
   
         
    Geritzt hier mit diesem
kostbaren Nagel,
den vor begehrlichen
Augen ich berge.
   
         
    Im Brotbeutel sind
ein Paar wollene Socken
und einiges, was ich
niemand verrate,
   
         
    so dient er als Kissen
nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt
zwischen mir und der Erde.
   
         
    Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.
   
         
    Dies ist mein Notizbuch,
dies meine Zeltbahn,
dies ist mein Handtuch,
dies ist mein Zwirn.
   
         
       
   
Text 2:
 
   
Wolfgang Borchert, Lesebuchgeschichten (1947)
 
   
Geschichte 1
Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Haus.
Aber er hatte kein Brot. Da sah er einen, der hatte Brot. Den schlug er tot.
Du darfst doch keinen totschlagen, sagte der Richter.
Warum nicht, fragte der Soldat
 
       
   
Nach persönlicher Interpretation und dem Austausch der Interpretationsergebnisse in den Arbeitsgruppen und im Plenum folgen dann z.B. diese Fragen, auch zuerst wieder zur Bearbeitung in Arbeitsgruppen:
 
       
    1.
Würden Sie sich den Soldaten genauso oder ähnlich wie die Person im Gedicht von G. Eich vorstellen? Könnte es sich um dieselbe Person handeln? Begründen Sie Ihre Meinung!
 
    2.
Wie würden Sie den Soldaten und sein Verhalten charakterisieren?
 
    3.
Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach der Richter in dieser Geschichte?
 
    4.
Wie sehen Sie hier das Verhältnis zwischen subjektivem Empfinden und objektiver Gegebenheit?
 
         
   
Hier wird es in der Plenardiskussion je nach Wissensstand der Studenten sinnvoll sein, landeskundliche Zusatzinformationen einzustreuen, insbesondere was die Rolle der Volksgerichtshöfe im nationalsozialistischen Deutschland und die der Richter des Dritten Reiches im Nachkriegsdeutschland angeht. Die notwendigen Zusatzinformationen können dabei sowohl über kurze Beiträge oder Kurzvorträge des Lehrers zur Verfügung gestellt werden als auch über dokumentarisches Textmaterial und Studentenreferate usw. Auf die in diesem literaturgeschichtlichen Zusammenhang sicherlich auch sehr interessante Formanalyse kann dann in weiteren Arbeitsschritten eingegangen werden.
 
       
   
Wesentlich ist hier, das sei noch einmal unterstrichen, dass dieses Verfahren nicht in erster Linie darauf abzielt, nach im Text enthaltener Information zu suchen und sie gegebenenfalls zu rekonstruieren. Es geht vielmehr darum, zum Text und der darin enthaltenen Information Stellung zu nehmen, wobei die Individualität dieser Stellungnahmen noch dadurch gefestigt und unterstrichen wird, dass die individuellen Leseergebnisse vor der Kontrastierung im Plenum zunächst in kleineren Arbeitsgruppen diskutiert werden. Dadurch wird dem einzelnen Studenten die Möglichkeit geboten, sich seine Haltung zum Text bewusster zu machen, bevor er sie in die Plenardiskussion einbringt, und so den eigenen Standpunkt umso überzeugter und überzeugender darzulegen.
 
       
   
Es zeigt sich, dass eine solche literaturdidaktische Berücksichtigung rezeptionstheoretischer Erkenntnisse in Form eines leserorientierten Arbeitens mit Literatur eine allgemeine Forderung an moderne pädagogisch-didaktische Modelle erfüllt, indem sie die „Handlungsorientierung“, das viel beschworene learning by doing ins Zentrum rückt. Denn kreatives Textverstehen ist Handeln; verstehendes Lesen ist nicht passive, sondern durchaus aktive Rezeption, im Sinne der Konstitution von Bedeutung, und besitzt als solche eindeutig die Merkmale produktiven Handelns. Zweifellos ist ein solches kreatives Textverstehen eine wichtige Voraussetzung für die Erfüllung des von Siguan an zeitgemäße universitäre Literaturveranstaltungen gestellten Forderungen-Katalogs.
 
       
   
Es zeigt sich, dass eine solche literaturdidaktische Berücksichtigung rezeptionstheoretischer Erkenntnisse in Form eines leserorientierten Arbeitens mit Literatur eine allgemeine Forderung an moderne pädagogisch-didaktische Modelle erfüllt, indem sie die „Handlungsorientierung“, das viel beschworene learning by doing ins Zentrum rückt. Denn kreatives Textverstehen ist Handeln; verstehendes Lesen ist nicht passive, sondern durchaus aktive Rezeption, im Sinne der Konstitution von Bedeutung, und besitzt als solche eindeutig die Merkmale produktiven Handelns. Zweifellos ist ein solches kreatives Textverstehen eine wichtige Voraussetzung für die Erfüllung des von Siguan an zeitgemäße universitäre Literaturveranstaltungen gestellten Forderungen-Katalogs.Natürlich kann man diesem Arbeitsvorschlag auch Einwände entgegenbringen: Unter anderem könnte man erstens aus der Perspektive der gegenwärtig vorherrschenden Literaturvermittlung an spanischen Universitäten bemängeln, dass der in seiner Bedeutung sehr hoch eingestufte literaturhistorische Überblick so nicht vermittelt wird. Zweitens könnte man das hier dargestellte Vorgehen für eine simple Übertragung des deutschen Universitätsmodells auf Spanien halten. Und drittens könnte man auch meinen, dass hier durch ein zu zeitaufwendiges Arbeiten mit literarischen Texten schlicht Zeit verschwendet wird.
 
       
   
Solche Einwände, die auf den ersten Blick durchaus plausibel erscheinen können, sind jedoch bei genauerem Hinsehen relativ leicht zu entkräften. So stimmt es zwar, dass hier die Vermittlung des literaturgeschichtlichen Überblicks innerhalb der Veranstaltung auf ein Minimum reduziert wird, es gibt aber keinen Hinderungsgrund dafür, die Erarbeitung eines solchen Überblicks, mittels der eingehenden Lektüre entsprechender Kapitel in den empfohlenen Literaturgeschichten, in die (prüfbare) Eigenarbeit der Studenten zu verlegen. Im Übrigen wäre außerdem noch zu berücksichtigen, dass das kreative Verstehen literarischer Texte, wie es hier gefördert werden soll, auch ohne die Kenntnis literaturgeschichtlicher Daten immer noch einen Sinn ergibt, Datenkenntnisse aus der Literaturgeschichte ohne ein Verständnis für Literatur hingegen nicht.
 
       
   
Auch dem möglichen Vorwurf, es handle sich um eine simple Übertragung des deutschen Universitätsmodells auf Spanien, lässt sich ähnlich leicht begegnen, denn es handelt sich weniger um eine Übertragung als vielmehr um die Kombination interessanter Aspekte aus beiden Studiensystemen. In ihrer Auswertung der Erfahrungen aus dem Studentenaustausch im Rahmen der Erasmus/Sokrates-Programme resümiert Siguan, „daß deutsche Studierende unsere Übersichtsveranstaltungen gegenüber unserem monographischen Angebot bevorzugen und spanische Studierende besonders die Seminare an den deutschen Universitäten schätzen“ (cf. Siguan 1998: 64). Geschätzt wird also gerade das, was es zu Hause jeweils nicht gibt. Das Ideal scheint demnach in der Mitte zwischen Überblick und Monographie zu liegen, eine Kombination beider Aspekte erscheint sinnvoll. Da der generelle Überblick in Spanien allein schon durch die Epochenstruktur des Literaturstudiums gewahrt bleibt und durch entsprechende Eigenarbeit der Studenten ergänzt werden kann, wird bei unserem Vorschlag, im Sinne der genannten Kombination, zusätzlich und ganz gezielt das kreative Arbeiten mit dem Text geschult.
 
       
   
Was schließlich die vermeintliche Zeitverschwendung angeht, lässt sich fast schon kategorisch feststellen, dass sie keine ist. Es ist längst erwiesen, dass man durch handelndes Lernen sehr viel mehr lernt als durch das Mitschreiben von Notizen beim Lehrervortrag. Aber vor allem: das durch Handeln Gelernte steht sehr viel dauerhafter zur Verfügung als die aus einem Vortrag exzerpierten Daten, die allzu häufig schon beim Lernen für die nächste Prüfung zu einem anderen Thema neuem Kurzzeitwissen weichen müssen.
 
       
   
Es dürfte nicht von der Hand zu weisen sein, dass (erst) eine leser- und handlungsorientiert organisierte Auseinandersetzung mit Literatur die Grundlage schafft, auf der u.a. ein Gefühl für Sprachmöglichkeiten entwickelt und das Potential literarischer Texte, als Lebenshilfe zur Alltagsbewältigung beizutragen, erkannt werden kann, auf der letzten Endes die geforderte Kulturkompetenz entsteht. Ein positiver Begleiteffekt wäre die Aktualisierung der universitären Literaturdidaktik, denn in unserem Vorschlag werden explizit Freiräume berücksichtigt, die der individuellen Leseerfahrung und einem kreativen Textverstehen zugute kommen. Vor allem aber bedeutet das hier skizzierte Vorgehen eine Rückbesinnung auf das Wesentliche in Literaturveranstaltungen, nämlich auf die Beschäftigung – in erster Linie und zunächst – mit dem literarischen Text und erst danach mit sonstigen, oft externen Daten. Genau das ist es, was der Titel dieses Beitrags mit „kreativer Rückeroberung der Literatur“ meint: die Rückeroberung des kreativen Literaturpotentials und seine Emanzipation vor dem sonst leicht erdrückenden Korsett sogenannter „objektiver Daten“.
 
       

Literaturangaben:

Ehlers, Swantje, 1992. Lesen als Verstehen. München / Berlin: Langenscheidt, 1992 (=Ehlers 1992).


Iser, Wolfgang, 1972. „The Reading Process. A Phenomenological Approach“. In: New Literary History 3 (1972), páginas: 279-299. (=Iser 1972).


Iser, Wolfgang, 1975. „Der Lesevorgang“. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hg. von Rainer Warning. München: Wilhelm Fink, 1975 (UTB Bd. Nr. 303). Páginas: 253-276. (=Iser 1975).


Iser, Wolfgang, 1976. Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: Wilhelm Fink, 1976 (UTB Bd. Nr. 636). (=Iser 1976).


Neuner, Gerhard, 1997. „Die Lernenden im Blickpunkt. Wege der Didaktik und Methodik des fremdsprachlichen Deutschunterrichts ins nächste Jahrhundert“. In: Fremdsprache Deutsch, Sondernummer II (1997), páginas: 38-49. (=Neuner 1997).


Siguan Boehmer, Marisa, 1998. „Überlegungen zum Germanistikstudium in Spanien: am Beispiel der Universität Barcelona“. In: Germanistentreffen Deutschland-Spanien-Portugal, Leipzig 13.-18.09.1998 - Dokumentation der Tagungsbeiträge. Bonn: DAAD, 1998, páginas: 61-70. (=Siguan 1998).


Westhoff, Gerard J., 1987. Didaktik des Leseverstehens. Strategien des voraussagenden Lesens mit Übungsprogrammen. Ismaning: Max Hueber, 1987. (=Westhoff 1987).


Westhoff, Gerard J., 1997. Fertigkeit Lesen. Berlin / München: Langenscheidt, 1997. (=Westhoff 1997).


Wicke, Rainer E., 1994. „Die Aufgabe als Verstehenshilfe im Umgang mit literarischen Texten – Lernerzentrierte Übungs- und Aufgabentypen“. In: Fremdsprache Deutsch 11,2 (1994), páginas: 40-45. (=Wicke 1994).




 



PROF. TIT. DR. MARIO SAALBACH ERDMANN
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