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 Deutsch in Sankt Gallen
an der Schwelle zum 11. Jahrhundert

BERTA RAPOSO FERNÁNDEZ
berta.raposo@uv.es
© Berta Raposo Fernández2003
Universitat de València


 
 
 

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Resumen

Aquí resum.

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Abstract

Das Werk des Sankt Galler Mönchs Notker des Deutschen (ca 950-1022) ist bisher meistens Gegenstand sprachhistorischer und linguistischer, seltener literaturhistorischer Untersuchung gewesen. Mein Beitrag wird sich zwischen dem Kultur- und dem literarischen Bereich bewegen und hauptsächlich folgende Texte und Punkte berücksichtigen: -Notkers Prolog zu seiner Boethius-Bearbeitung als Zeugnis seiner Einstellung zur Weltgeschichte und als zeitlicher Rahmen im Zusammenhang der Jahrtausendwende vom 10. ins 11. Jahrhundert. -Notker Brief an Bischof Hugo von Sitten in Vergleich mit Otfrids Prolog zum "Evangelienbuch" und eventuell mit den Ausführungen Gottschalks des Sachsen über die deutsche Sprache. Daraus werden sich unterschiedliche kulturhistorische Momente der Einschätzung des Deutschen als Literatursprache ergeben. Diese sollen dann mit den heutigen Motivationen für das Deutschstudium verglichen werden.

Schlagwörter: Notker Teutonicus, Notker der Deutsche, Notker III, Notker Labeo


 

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Deutsch in Sankt Gallen
an der Schwelle zum 11. Jahrhundert

BERTA RAPOSO FERNÁNDEZ
Universitat de València

 

     
     
 
Als erstes möchte ich den Veranstaltern dieses Kongresses dafür danken, daß sie sich ein so generös angelegtes Thema ausgedacht haben: alles was wir spanische Germanisten heute treiben, ist Deutsch in Spanien an der Schwelle des 21. Jahrhunderts; damit läßt sich trefflich spielen. Denn hier weckt an der Formulierung “Deutsch in Spanien an der Schwelle des 21. Jahrhunderts” nicht die Verbindung deutsch-spanisch, sondern ”an der Schwelle des 21. Jahrhunderts” meine Aufmerksamkeit. Dahinter steckt sicher mehr als eine bloße Jahreszahl, und die apokalyptischen Töne einer solchen Formulierung sind nicht zu übersehen. Dabei wird die Vorstellung evoziert, daß irgend eine epochemachende Phase angetreten werden, daß bald etwas Weltbewegendes geschehen soll, daß entweder der Weg in nie zuvor geahnte Höhen oder in den totalen Niedergang unmittelbar bevorsteht. Es geht einem wie dem Julius von Schlegels Lucinde in seiner pubertärsten Phase: “Er erwartete in jedem Augenblick, es müsse ihm etwas außerordentliches begegnen. Nichts würde ihn befremdet haben, am wenigsten sein eigner Untergang” (Schlegel 1963:46). Und obwohl das alles von einem gewissen Fatalismus getragen wird, dahingehend, daß diese Entwicklung nicht mehr aufzuhalten ist, dennoch fühlt man dumpf, daß man irgend etwas unbedingt tun muß, um sie positiv zu gestalten.
 
     
 
Aber das alles ist der Buchstabe; wenn man versucht, sich an die Formulierung des Kongreßthemas wörtlich zu klammern, um damit paradoxerweise den Geist aus dem Buchstaben zu befreien, kann man wie oben gesagt, viel damit spielen, und das habe ich eben gemacht auf dem Wege der Umkehrung und des teilweisen Ersatzes: Deutsch und Schwelle sind geblieben, statt des 21. Jahrhunderts tausend Jahre weniger, statt Spanien St. Gallen. Die Konstellation St. Gallen als deutsche Insel um 1000 herum, Notker als rühmliche Ausnahme in einer lateinisch schreibenden Welt ist sattsam bekannt Die Notkerforschung ist oder war vorwiegend sprachwissenschaftlich oder sprachgeschichtlich ausgerichtet, neuerdings sind literatur- und kulturwissenschaftliche Ansätze aufgekommen, die sich als besonders fruchtbar erweisen. In diesem Sinne will ich versuchen, diese Ausnahmestellung Notkers in ein anderes Licht treten zu lassen. Ein für diese Gelegenheit etwas willkürlich ausgewählter Aspekt seines Werks -der Umgang mit Geschichte- ermöglicht uns eine Erweiterung der bisher vorherrschenden Sicht. Denn Geschichte ist läßt sich von Politik kaum trennen, und das scheint nicht in das Bild Notkers als eines weltabgewandten stillen Klostergelehrten zu passen. Dem Unpolitischen seines Werks lassen sich aber auch andere Seiten abgewinnen, die für Germanisten des 21. Jahrhunderts ein gewisses Interesse beanspruchen können.
 
     
 
Als Tribut an den Zeitgeist könnte man die Frage wie ein Modethema formulieren und sagen: Notker und das Jahr 1000, aber nur die äußeren anzeichen sprechen dafür.
 
     
 
Der große Notker Labeo oder Notker Teutonicus hat zwischen dem 10. und dem 11. Jahrhundert gelebt und gewirkt, also eine Jahrtausendwende mitgemacht, wahrscheinlich aber nicht so bewußt und darauf versessen wie so viele heute. Denn entgegen einer weit verbreiteten romantisch gefärbten Vorstellung war die frühmittelalterliche Haltung dem Jahr 1000 gegenüber nicht so apokalyptisch oder gar hysterisch wie uns eine gewisse Geschichtsschreibung glauben machen könnte (Duby 1992:27-31), schon gar nicht im deutschen Sprachraum; und zwar einfach und allein aus dem Grund, daß die Berechnung der Zeit nach Christi Geburt sich damals noch nicht im ganzen Abendland durchgesetzt hatte. Gewiß hat sich Notker als Klostergelehrter mit komputistischen Fragen beschäftigt, obowhl die Autorschaft des unter seinen lateinischen Werken meitens aufgeführten Computus umstritten ist (Hellgardt 1979:190-191; Tax 1997:161). Gegenstände der Komputistik waren die Berechnung des Osterfestes, nach dem sich das ganze kirchliche Jahr drehte (und immer noch dreht) und die christliche Zeitrechnung im allgemeinen. Nachdem man sich langsam dazu entschlossen hatte, die Zeit nicht ab der Erschaffung der Welt, d. h. nach dem Alten Testament, oder nach der Gründung Roms, sondern nach dem Neuen Testament zu berechnen (d. h. die Jahre nicht als annus mundi, sondern als annus domini zu bezeichnen), war die Ankunft des Jahres 1000 lange noch nicht sicher zu bestimmen. Handelte es sich um das Jahr 1000 der Geburt oder der Empfängnis oder gar der Passion und Auferstehung Christi? Im letzteren Fall läge das Jahr 1000 eigentlich erst in dem Jahr, das man heute als 1033 zählt.
 
     
 
Nicht die Jahrhundert- und Jahrtausendwende bestimmt also Notkers Verhältnis zur Geschichte, sondern die Beschäftigung mit einem Werk, das trotz seines überlieferten Titels sowohl ein Trostbuch als auch den Träger einer bestimmten Geschichtsphilosophie (Pickering 1967:67) darstellt: Boethius’ De consolatione Philosophiae. Am Anfang von Notkers Übertragung dieses Werks befindet sich ein Textzusatz, der die eschatologische Frage nach dem Weltuntergang beiläufig tangiert. Der Kern besteht aber in handfesten geschichtsphilosophischen Aussagen. Es handelt sich um den Prologus oder Prologus teutonice. Bekanntlich wurde die Consolatio von Notker so behandelt, daß seine Übersetzung als eigenständige Arbeit und Leistung zu würdigen ist. In diesem Sinn ist Folgendes zu nennen: die Verwendung zweier Kommentare (Remigius von Auxerre und ein anderer X, auch Anonymus S. Galli genannt) für die Bearbeitung, die totale Umstrukturierung der Abschnitte, und eben auch die Hinzufügung eines anonymen lateinischen Textes am Anfang zusammen mit einer deutschen Übertragung; beide, lateinischer Text und deutsche Übertragung, werden von ihm als Prolog bezeichnet. Die Consolatio hatte ursprünglich kein Vorwort, wurde aber vielfach in Verbindung mit irgendeiner Vita Boethii überliefert. Die Vorlage für den von Notker beigesteuerten Prolog stand in der St. Galler Handschrift 845 aus dem 10. Jahrhundert. Derselbe Text erscheint später in einer Wiener Handschrift aus dem 11. Jahrhundert nicht am Anfang, sondern am Ende der Consolatio, es handelt sich also nicht unbedingt um ein Vorwort, und er wird auch gelegentlich De translatione imperii genannt. Bisher herrscht Unklarheit über den Autor, Notker selbst war es höchstwahrscheinlich nicht, da er es bei seiner deutschen Übertragung ziemlich radikal kürzt und adaptiert.
 
     
 
Ich umschreibe jetzt den Inhalt dieses lateinischen Prologs: Nachdem viele Menschen, die den Zeitpunkt des Jüngsten Gerichts wissen wollten, durch falsche Apostel in Schrecken versetzt worden waren, prophezeite der Apostel Paulus, daß der Weltuntergang erst nach der Ankunft des Antichrist geschehen würde. Die Römer waren damals die Weltbeherrscher und deren Untergang wurde mit dem Weltuntergang in Zusammenhang gebracht. Dann griffen barbarische Völker unter Vertragsbruch das nicht mehr widerstandsfähige römische Reich an und leiteten so den Untergang ein, den wir jetzt erleben. Zur Zeit des (oströmischen) Kaisers Zeno wurde Italien von Odoaker, König der Rugier erobert; Theoderich, König der Ostgoten, besetzte Pannonien und Makedonien. Er wurde dann vom Kaiser in Konstantinopel freundlich aufgenommen und wie ein Verbündeter und Vertrauter behandelt. Daraufhin bat ihn Zeno, alles Mögliche zu tun, um Odoaker aus Italien zu vertreiben. Theoderich führte den Auftrag aus, indem er gegen Odoaker Krieg führte, ihn zum Rücktritt zwang und später umbrachte. Als Belohnung erhielt er die Herrschaft über Italien. Unter Zenos Nachfolgern begann er ganz nach seiner Willkür zu herrschen und alle seine Gegner zu beseitigen. So tat er es mit dem Patrizier Symmachus und dessen Schwiegersohn Boethius (dem Autor dieses Werks), und auch mit dem Papst Johannes, bis er von seinem Neffen Alderich entthront wurde. Von da an ging es bergab mit dem römischen Staat. Die Goten, die ihm so zugesetzt hatten, wurden von den Langobarden in der Herrschaft über Italien abgelöst. 200 Jahre später setzte Karl, König der Franken, dieser Herrschaft ein Ende und wurde vom Papst Leo zum Kaiser gekrönt. Die Kaiserwürde ging dann von seinen Nachfolgern auf die Sachsen über. So ist das römische Reich untergegangen, wie Paulus es vorausgesagt hatte.
 
     
 
Wie schon angedeutet, wird dieser wortreiche, umständliche und nicht immer stringent aufgebaute Text durch Notker auf das Wesentliche gekürzt. Die Grundaussage bleibt zwar erhalten, aber die Auslassungen sind so zahlreich, daß es sich lohnt, sie gesondert aufzuzählen. Da steht nichts über die falschen Propheten und ihre Schreckensverbreitung, keine konkrete Benennung der barbarischen Völker; nur mánige líute énnônt tûonouuo gesézene (Notker 1986:5), nichts über deren Vertragsbruch und über die römische Schwäche, die ihrem Angriff nicht widerstehen konnte. Es wird auch nichts Näheres über Kaiser Zeno gesagt, der im lateinischen Text ganz genau unter die römischen Kaiser chronologisch und geographisch eingeordnet wird, auch nichts Näheres über Odoakers und Theoderichs Eroberungen und Herrschaftsbereiche, wieder keine Völkernamen. Man erklärt nicht die Art und Weise, wie die Langobarden ins Reich geholt wurden, nämlich durch den Verrat des Patriziers Narses, so wie überhaupt die Verwicklungen der römischen Politik unter Zenos Nachfolgern verschwiegen werden. Diese Nachfolger heißen bei Notker übrigens einfach ándere chéisera. Auch über die Krönung Karls des Großen und die Hilfe von Papst Leo schweigt sich der deutsche Text aus.
 
     
 
Im allgemeinen läßt sich eine starke Tendenz zur Vereinfachung der historischen und geographischen Informationen beobachten, was wohl als Anpassung Notkers an den Kenntnisstand seiner Zeit und seiner Schüler zu verstehen ist. So werden nur die wichtigsten Völker, Länder und Herrscher namentlich erwähnt: Römer, Goten, Langobarden, Franken (Karlinge) und Sachsen (im lateinischen Text kommen auch die Alanen, Sarmaten, Dakier, Wandalen, Rugier usw. vor); Italien und Griechenland (im lateinischen Text Pannonien und Makedonien); Zeno, Odoaker, Theoderich, Alderich, Justin und Narses. Interessanter noch als die Auslassungen sind aber die seltenen Änderungen oder Akzentverschiebungen im Ausdruck, die eine andere Haltung Notkers gegenüber der im Prolog geschilderten Ereignisse verraten. Das Einvernehmen zwischen Theoderich und Zeno wird zuerst besonders hervorgehoben: Sô dioterih [...] ôtaccheren mít nôte guán . únde ín sâr dáranâh erslûog . únde er fúre ín des lándes uuîelt . tô netéta er ze êrest nîeht úber dáz . só demo chéisere lîeb uuás (Notker 1986:5). Theoderichs Willkürherrschaft unter Zenos Nachfolgern wird aber in ein krasseres Licht gestellt als bei der lateinischen Vorlage: die Ermordung von Papst Johannes wird als schlimmer als die des Symmachus und des Boethius bezeichnet: Fóne díu slûog er boetium . unde sînen suêr symmachum . únde dáz óuh uuírsera uuás . iohannem den bâbes (Notker 1986:6). Ganz besonders aber wird der Begriff der römischen Freiheit bei ihm gewogen haben, nämlich als Fachausdruck, da er ihn statt des res publica der Vorlage neu einführt: Romanum imperium hábeta îo dánnân hína ferlóren sîna libertatem. (Notker, loc. cit.). An dieser Stelle heißt es im lateinischen Prolog Hinc romana res publica iam nulla esse ceperat (Notker 1986:4). Er “übersetzt” also eine lateinische Aussage durch ein anderes lateinisches Wort, was dem Usus in der ganzen Consolatio-Übersetzung entspricht.
 
     
 
Möglich ist, daß er libertas aus einer andern Vorlage als dem lateinischen Prolog entnommen hat (cf. Ostberg 1962/63:262). Laut Schützeichels althochdeutschem Wörterbuch (1974:59) ist frîheit nur bei Notker belegt, und wahrscheinlich ist er sogar der Schöpfer dieses deutschen Abstraktums (cf. Weisweiler / Betz 1974:118), aber er benutzt es hier nicht, weil es bei ihm keine politische, sondern juristische Bedeutung im Sinne von Nicht-Leibeigenschaft hat (cf. Sehrt 1962:59). Auf jeden Fall: Gleichgültig, wie die philologische Frage zu beantworten ist, finde ich den notkerschen Ausdruck viel drastischer als den des lateinischen Prologs. Aus dem ganzen deutschen Prolog ist eine unverhohlene Theoderich-Kritik herauszulesen, die uns den Übergang in den Bereich ermöglicht, der mit Recht als Notkers ureigenes Metier gilt: die Pflege der deutschen Sprache aus pädagogischen Gründen, in einem politikfreien Raum.
 
     
 
Um diese scheinbare Politiklosigkeit besser zu charakterisieren muß man weit ausholen und einen knappen Vergleich mit dem großen Politiker der althochdeutschen Literatur anstellen: Otfrid von Weißenburg.
 
     
 
Es ist fast sprichwörtlich geworden, daß Notker nichts von seinen volkssprachlich schreibenden Vorgängern wußte. Die Außergewöhnlichkeit seines Tuns, die er in seinem berühmten Brief an Bischof Hugo von Sitten betont, wird von ihm als Mittel zum Zweck gerechtfertigt, aus didaktischen Gründen in Hinblick auf ein besseres Verständnis der lateinisch geschriebenen heiligen Bücher. Der geistliche Vorgesetzte wird nach anfänglichen Bedenken Notkers volkssprachliche Übertragungen schätzen lernen, sobald er eingesehen hat, quam cito capiuntur per patriam linguam, quae aut vix aut non integre capienda forent in lingua non propria (cf. Hellgardt 1979:173). Der propädeutische Wert der Muttersprache war Notkers einzige Motivation.
 
     
 
Ganz anders Otfrid, der mehr als 200 Jahre früher sein Evangelienbuch König Ludwig dem Deutschen widmet und im Kapitel I des 1. Buchs eine leidenschaftliche Verteidigung der fränkischen Volkssprache macht als Sprache des weltbeherrschenden Volks, das er stereotypisch preist in Anlehnung an die Lex Salica und, weiter zurück, an Isidors von Sevilla Laus Spaniae. Man hat sein Werk zu Recht als späte Folge der karlischen Kulturpolitik betrachtet; und sollte das Südrheinfränkische, wie Macià Riutort (1998:539) annimmt, die Muttersprache Karls des Großen gewesen sein, würde auch dieses sprachliche Band beide Persönlichkeiten über drei Generationen hinweg verbinden. Die politischen Absichten sind bei Otfrid überdeutlich, und obwohl sein Endzweck dem Notkers vergleichbar ist (bei diesem das bessere Verständnis, bei Otfrid die Verkündigung von Gottes Wort), kann man fast von einer Gleichwertigkeit oder Gleichstellung von Religion und Politik bei Otfrid reden.
 
     
 
Bei Notker hätten wir es hingegen mit einer Gleichstellung von Pädagogik und Religion zu tun, so stark geht er in seiner Aufgabe als klösterlicher magister auf. Dieses Lehramt spiegelt sich bekanntlich in der Aufmachung und Anordnung seiner Werke wider. Daß er ein hervorragender Übersetzer war, ist lange noch nicht ausschlaggebend; das war es auch der anonyme Isidor-Übersetzer 200 Jahre früher. Das Eigentümliche bei Notker ist nicht die fertige Übersetzung, die uns in dieser Gestalt ja nie entgegentritt, sondern das Zurechtstutzen der lateinischen Vorlagen und das schrittweise Vorgehen bei der Übertragung, mit gelegentlichen längeren und kürzeren Exkursen, entweder aus früheren Kommentaren entnommen oder aus eigener Produktion. Nicht das Ziel, sondern der Weg ist ihm wichtig.
 
     
 
Dieses liebevolle Zugehen auf die Schüler läßt sich auch am Umgang mit Geschichte beobachten. Beim Prologus teutonice zu der Consolatio ist der Grundtenor die Vereinfachung der historischen Tatsachen, aber nicht deren Verdrehung wie sie etwa in der Dichtung schon seit Jahrhunderten im Schwange war (im Hildebrandslied wird aus dem Täter Theoderich das vertriebene Opfer, aus dem vertriebenen Odoaker der Angreifer). Wohl erkannte Notker, geschichtsphilosophische Bedeutung der Consolatio, und deswegen hat er seine Übertragung mit diesem Prolog und nicht etwa mit irgendeiner Vita Boethii versehen. So kann er seinen Schülern den historisch-politischen Entstehungshintergrund des übersetzten Werkes besser erklären, was er auch mit den Exkursen über römische Staatsverfassung und über Astronomie, Philosophie und Rhetorik tut. Auch am Ende stellt er das Ganze wieder in einen geschichtlichen Rahmen, als er in einem kleinen Epilogus (eine Art Gegenstück zum Prologus) Gott als alles sehender êotéilare (Richter) bezeichnet, der die menschlichen Taten úberuuártêt. Knapp und andeutungsweise wird hier an Boethius’ politischen Mord durch Theoderich erinnert, als es heißt, daß jener an dieser Stelle nicht mehr in der Lage war, sein Werk zu vollenden.
 
     
 
Spätestens hier stellt sich heraus, daß Notkers scheinbar unpolitische Haltung auch einen Schuß Politik enthält, obwohl dies nicht in dem negativen Sinn gemeint ist, den man dieser Behauptung gemeinhin unterlegt. Bei Otfrid hatten wir gesehen, wie überschwenglich er nicht nur das Frankenvolk preist, sondern auch dessen König, dem die ganze Dichtung ja gewidmet ist. Auch sein Brief an Erzbischof Liutbert von Mainz mit der Bitte um Approbation zeugt von seinen hohen Geltungsansprüchen. Die einzige Autorität, an die Notker sich nachweislich einmal in seinem Leben gewandt hat, ist Bischof Hugo von Sitten, der zwar als bedeutender Territorialfürst seiner Zeit ausgewiesen (cf. Hellgardt 1979:182), aber nicht mit anderen politischen Größen zu vergleichen ist. Für solche scheint Notker nichts übrig zu haben: Karl den Großen erwähnt er ja doch nicht im Prologus teutonice, obwohl es sich sicherlich angeboten hätte, werden doch mindestens alle anderen wichtigen historischen Figuren von ihm genannt. Seine Antipathie für Theoderich, eins der großen Vorbilder Karls des Großen (und Ottos III., Notkers Zeitgenossen!), ist offensichtlich. Die große Reihe Theoderich der Große - Karl der Große - Otto der Große geht an ihm spurlos vorüber, und sein Tod infolge der von den Heeren Heinrichs II. aus Italien eingeschleppten Pest entbehrt auch nicht der symbolischen Bezüge. Unbeirrt durch weltgeschichtliche Ereignisse hält er an seine Lehreraufgabe fest durch Weiterarbeiten an der Hiobsübertragung noch am letzten Tag seines Lebens.
 
     
 
Nun ist es eine Frage der heutigen Wahrnehmung, des wechselnden Erkenntnisinteresses, wie das geistesgeschichtliche Wirken eines Autors bewertet oder ausgelegt wird. Um wieder auf den Otfrid-Notker-Vergleich zurückzukommen: Die Rezeption Otfrids im 16. Jahrhundert spricht Bände; sein Werk wurde sowohl von Protestanten als auch von Katholiken für ihre Zwecke vereinnahmt: als früher Kronzeuge für die Popularisierung der Heiligen Schrift und (zwar anonym) als dekorative Untermalung der imperialen Politik Philipps II. von Spanien (cf. Raposo 1998:133-134).
 
     
 
Dem stillen Klostergelehrten Notker ist ein solches Schicksal erspart geblieben und das ist richtig so. Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Jakob Grimm und Karl Lachmann erforscht und für die Sprachgeschichte brauchbar gemacht, konnte sein Werk verständlicherweise nicht das Ausmaß nationalen Engagements wie das Nibelungenlied auch nur annähernd erreichen. Auch hier kehrt die scheinbare Politiklosigkeit wieder.
 
     
 
Am Anfang war von Geist und Buchstaben die Rede, ich hatte gesagt, daß aus dem Wortlaut des Kongreßthemas bei mir die Ausdrücke Deutsch und Schwelle haften geblieben waren. Den vagen Erwartungen und Befürchtungen, die an das Wörtlichnehmen, an den Buchstaben dieser Ausdrücke geknüpft waren, könnte man mit einer Prise Ironie das Notker-Beispiel entgegenhalten. Auch er hat an der Schwelle eines Jahrhunderts und Jahrtausends sich mit deutscher Sprache in der Diaspora beschäftigt (die mit der spanischen Diaspora allerdings nicht zu vergleichen ist; lebte Notker doch in einer durchaus deutschsprechenden, nur nicht -schreibenden Welt), obwohl diese Sprache damals noch nicht existierte, er in alemannischer Mundart schrieb und diese für ihn kein Selbstzweck war. Aber der heutigen (und womöglich künftigen) Germanistik wird er immer eine vorbildliche Figur bleiben.
 
     
 
Der Zufall der Jahreszahlen hat es nun gewollt, daß in den Rahmen des Kongreßthemas eine Jahrtausendfeier Notkers durchaus paßt. Ich hoffe, sie mit vorliegender kleiner Hommage würdig begangen zu haben.
 
     
     
 
Bibliografía.
 
     

Duby, Georges. 1992 (4ª edición). El año mil. Traducción de Irene Agoff. Barcelona: Gedisa (Hombre y sociedad). (=Duby 19924).


Hellgardt, Ernst. 1979. “Notkers des Deutschen Brief an Bischof Hugo von Sitten“. In: Klaus Grubmüller, und Ernst Hellgardt, und Heinrich Jelissen (u.a.) (Hgg.). Befund und Deutung: Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft - Festschrift für Hans Fromm. Tübingen: Max Niemeyer. 169-192. (=Hellgardt 19794).


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Raposo, Berta. 1998. “Eine frühe Tatian- und Otfrid-Rezeption im spanischen Kontext”. In: DAAD (Hg.) (Red. Werner Roggausch). Germanistentreffen Deutschland-Spanien-Portugal. Leipzig 13.-18.09.1998. Dokumentation der Tagungsbeiträge. Bonn: Deutscher Akademischer Austauschdienst (Reihe Germanistik). (=Raposo 1998).


Riutort, Macià. 1998. “Trasfondo, contenido, objetivos y resultados de la política linguística de Carlomagno en sus territorios germánicos”. En: Grupo de Investigación Filología Alemana (Hg.). Tradición e innovación en los estudios de lengua, literatura y cultura alemanas en España. Sevilla: Kronos Universidad (Filología Vol. 7). 537-550 (=Riutort 1998).


Schlegel, Friedrich. 1963. Lucinde. Ein Roman. Hg. von Karl Konrad Polheim. Suttgart: Reclam (Universal-Bibliothek 320/20a). (=Schlegel 1963).


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PROF. DRA. BERTA RAPOSO FERNÁNDEZ
Departament de Filologia Anglesa i Alemanya • Unitat Depart. de Lit. Alemanya
Facultat de Filologia • Universitat de València
Avgda. Blasco Ibáñez, 32 • 46010 València
Telefon: 0034 96 398 30 12 und 96 386 42 62 • Fax 0034 96 386 4161
berta.raposo@uv.es
http://centros.uv.es/web/departamentos/D155/


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